Fabian Vogt

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alles so einfach; einfach, einen Schritt nach vorne zu machen, einfach, diese widernatürliche Welt hinter sich zu lassen, einzutauchen ins Nichts …

      Da packte ihn eine starke Hand und zog ihn so energisch nach hinten, dass er rücklings auf den Planken zu liegen kam.

      „Willkommen im Leben, mein Freund!“

      Der junge Mann stützte sich auf seine Unterarme, richtete den Oberkörper auf und schaute den Fremden verdutzt an. Es war ein Mann um die vierzig, dessen großer runder Hut den dunklen Locken nur schwer Einhalt gebieten konnte. Seine Kleidung aus Samt und Satin war verschwenderisch gestaltet und wies ihn als Mitglied der Aristokratie aus. Sein Körper allerdings wirkte schwächlich, so als kämpfe er gegen eine schwere Krankheit, die ihn über kurz oder lang besiegen würde. In diesem Moment aber leuchtete sein Gesicht vor Freude. Die Mundwinkel waren entlang seiner Schnurrbartspitzen feixend nach oben gezogen und die Augen weit geöffnet, während sein durchdringendes Lachen das Rauschen des Windes übertönte. Der Fremde prustete auch noch, als er dem am Boden Liegenden das Wams zuwarf und die Stulpenstiefel mit einem gezielten Tritt zu ihm beförderte.

      Der junge Mann rührte sich nicht. „Wer seid Ihr?“

      „Wer ich bin?“ Der Fremde hielt die Frage offensichtlich für höchst amüsant. Er lupfte seinen Hut und verbeugte sich: „Gestatten. Antoon van Dyck. Hofmaler seiner Majestät Charles des Ersten, wenn du es genau wissen willst. Und du bist Maximilian. Schön, dass wir uns wieder sehen!“

      Verwirrt zog der Angesprochene seine Kleidung wieder an. Nach längerem Schweigen sagte er: „Seid Ihr sicher, dass wir uns kennen?“

      „Oh, ich vergesse nie ein Gesicht, das ich einmal gemalt habe. Außerdem habe ich deinen hübschen Kopf fast jeden Tag vor Augen. Dein Antlitz hängt an einer exponierten Stelle im Palast. Aber: Ist das nicht unglaublich? Du kommst aus meiner Zukunft und ich komme aus deiner Zukunft. Du weißt, was mit mir passieren wird, und ich weiß, was mit dir passieren wird. Vielleicht bin ich momentan ein wenig im Vorteil, weil ich die Vergangenheit mit mir bringe. Ich kenne dich schon lange, du lernst mich gerade erst kennen. Also, ich finde das komisch.“ Und wieder kam ein Lachanfall über ihn, der seinen ganzen Körper erschütterte.

      Der junge Mann stammelte: „Ihr wisst von meiner …?“

      „Na, eigentlich habe ich es bis vor einer Minute selbst nicht geglaubt. Ich dachte damals, ich hätte einen mit einer wundervollen Fantasie begabten, aber verrückten Wirrkopf in mein Atelier eingeladen. Trotzdem hat mich deine Geschichte so fasziniert, dass ich heute hierher gekommen bin, um zu sehen, ob sie wahr ist.“

      Maximilian zog die Augenbrauen zusammen. Vorsichtig murmelte er: „Das verstehe ich nicht!“

      Sein Gegenüber breitete strahlend die Arme aus: „Du hast mich vor fünf Jahren indirekt gebeten, heute mit dir auf diesem Schiff zu fahren und dir das Leben zu retten. Hier bin ich!“

      Der Maler lachte so heftig, dass er sich verschluckte. Erst als er wieder Luft bekam, konnte er weitersprechen: „Es ist verrückt! Ich denke andauernd, dass du das alles doch eigentlich wissen müsstest, dabei hast du es noch vor dir. Du wirst unsere Londoner Begegnung ja erst in wenigen Tagen erleben. Und dann werde ich dich zum ersten Mal sehen, obwohl ich jetzt so viel über dich weiß. Damals, in meiner Zeitrechnung, war es umgekehrt: Du kanntest unsere gemeinsame Zukunft und hattest diese erste Begegnung schon hinter dir.“

      Ängstlich blickte sich der blonde Reisende, der plötzlich zitterte, um und legte für einen kurzen Moment den Kopf in die hellen Hände. Dann flüsterte er: „Ich habe Euch wirklich alles erzählt?“

      Van Dyck grinste: „Ich hatte noch niemals ein so geschwätziges Modell wie dich. Aber wen wundert es: Du hast dir ja bei deinem Besuch auch knapp 400 Jahre von der Seele geredet.“

      „Woher weiß ich, dass Ihr nicht lügt?“

      „Du bist ein komischer Vogel. Wenn ich damals so wenig Vertrauen zu dir gehabt hätte wie du jetzt zu mir, wäre ich heute nicht hier, und du würdest jetzt da unten mit den Fischen spielen. Aber warte …“

      Van Dyck griff in sein Gewand und zog einen zusammengefalteten Bogen Papier hervor. Er entfaltete ihn genussvoll und hielt ihn dem immer noch am Boden Sitzenden vor die Nase. Staunend las Maximilian:

       „Am 27. Dezember 1640 werde ich versuchen, mir auf der Fleute‚ Marian‘ auf dem Weg von Antwerpen nach London das Leben zu nehmen.

       Gez. Maximilian Temper“

      Van Dyck grinste: „Du wusstest damals schon, dass du mir nicht glauben würdest. Darum hast du mir im Jahr 1635 diesen Zettel gegeben.“

      Maximilian starrte auf das Blatt, auf das die Botschaft ganz augenscheinlich mit seiner eigenen Handschrift geschrieben war. Und während die Buchstaben in der feuchten Luft zu zerlaufen begannen, streckte der Maler dem verdutzten jungen Mann die Hand hin.

      „Komm hoch, es gibt einiges zu besprechen! Und wir haben nicht viel Zeit. In fünf Stunden verschwindest du wieder in meiner Vergangenheit. Los, wir wollen feiern wie zwei echte Ritter!“

      Maximilian blickte den gut gelaunten Edelmann fragend an, dann zog er sich an der dargebotenen Hand hoch.

      „Wieso habe ich Euch meine Geschichte erzählt?“

      „Wahrscheinlich, weil du es nicht mehr ausgehalten hast. Weil du verzweifelt warst, so wie eben.“

      Er griff sich theatralisch an die Stirn. „Nein, Unsinn, jetzt erst verstehe ich, was hinter all dem steckt: Du hast mir deine Geschichte damals erzählt, weil du ja durch unser heutiges Treffen schon darauf vorbereitet warst, weil du von nun an weißt, dass du sie mir im Jahr 1635 erzählen wirst. Ja, ich erinnere mich: Du hattest dir bislang immer fest vorgenommen, niemandem dein Geheimnis zu verraten, aber ein solches Schicksal kann keiner alleine bewältigen. Vielleicht hast du auch darum angefangen, alles aufzuschreiben …“

      Maximilian unterbrach ihn: „Ich habe was?“

      Van Dyck hob die Augenbrauen, weil ihm sein Gegenüber ins Wort gefallen war. Etwas gereizt sagte er: „Du hast deine Geschichte aufgeschrieben. Entschuldige meinen Ton, du kannst das ja noch nicht wissen. Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, dass wir beide in entgegengesetzter Richtung leben. Also, pass auf: Ich habe dir damals mehrere Seiten von meinem besten Zeichenpapier und eine wertvolle Feder gegeben. Das heißt für dich: Ich werde dir bald mehrere Seiten von meinem besten Zeichenpapier und eine wertvolle Feder geben. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“

      Der junge Mann sprach leise vor sich hin: „Wenn ich meine Geschichte aufschreibe, dann verstehe ich vielleicht endlich, warum das alles passiert. Es muss doch irgendeinen Sinn hinter meiner absonderlichen Existenz geben, irgendeinen Plan oder ein verborgenes System. So etwas Seltsames passiert nicht ohne Grund.“

      Maximilian ergriff die Hand des Malers: „Sir, Ihr habt mir mehr geholfen, als Ihr denkt.“

      Der andere erwiderte den Händedruck. „Ich weiß. Das wirst du mir bald noch einmal sagen. Das heißt: Wenn ich es aus meiner Perspektive betrachte, dann hast du es mir schon gesagt. Aber darum bin ich ja auch hier. Ich dachte, du könntest dich revanchieren.“

      Van Dyck legte den Arm um den Mann und führte ihn an die Treppe, die zu den Passagierkabinen hinunterführte.

      „Du weißt vielleicht, dass ich mich auf meine alten Tage verheiratet habe. Aber es steht mit meiner Gesundheit nicht zum Besten. Sage mir, ob ich noch einen legitimen Erben zeugen werde.“

      Maximilian schwieg. Van Dycks Frau Maria würde eine Tochter bekommen und sie „Justiniana“ nennen, eine Woche vor dem Tod des großen Malers. Alle werden davon sprechen. Nur du wirst nichts mehr davon haben, dachte er. Laut sagte er: „Ihre Frau wird bald schwanger werden.“

      „Na, ich werde mein Bestes dafür tun!“

      Van Dyck schlug ihm fröhlich auf die Schulter und zeigte nach vorne, wo die Lichter eines Fischerortes durch das Dunkel leuchteten.