Fabian Vogt

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Ich reise. Ich reise durch die Zeit, genauer gesagt: in die Vergangenheit. Ich tauche ein in die Geschichte und versuche verzweifelt, nicht darin unterzugehen. Denn so sehr ich mich auch dagegen wehre: Meine Uhr springt zurück, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Unaufhaltsam falle ich durch die Jahre. Dafür muss es einen Grund geben, ich weiß nur noch nicht, welchen. Aber ich werde es herausfinden.

      Der Künstler Antoon Van Dyck, den ich vor fünf Tagen an Bord des Fährschiffs „Marian“ kennen gelernt habe, hat Recht behalten. Er behauptete, er habe mir einige Jahre zuvor geholfen, meine Erfahrungen aufzuschreiben. Und tatsächlich: Ich sitze in einem kleinen, verwinkelten Raum neben seinem Atelier und schreibe auf seinem Zeichenpapier mit einer Feder, die er mir geschenkt hat. Das ist ein gutes Gefühl. Zum ersten Mal seit dem Beginn meiner widersinnigen Wanderung habe ich ein Ziel: Ich werde alles aufschreiben, was mir auf den Stationen meiner Wanderung widerfahren ist, denn vielleicht stoße ich dabei auf eine Spur, einen Hinweis, irgendetwas, das mir hilft, das Unglaubliche zu verstehen.

      Wie warm es hier ist. Von allen Seiten starren mich Theatermasken an und lächeln über den einsamen Schreiberling, der sich an seiner Feder festhält wie an einem Rettungsring. Draußen schlägt eine Glocke, eins, zwei, drei, vier … zehnmal, und die Schläge hallen in dem dunklen Gewölbe nach.

      Gerade ist mir bewusst geworden, welches Jahr wir heute haben: 1635. Ich wage kaum, diese Zahl noch einmal hinzuschreiben. Denn sie ist etwas Besonderes, ein kleiner Haltepunkt in meinem dahintreibenden Dasein. Heute bin ich genau 365 Tage in die Vergangenheit vorgedrungen, ein Jahr meines aus der Zeit gerissenen Lebens. Aber 365 Jahre der Geschichte, denn jeden Morgen, wenn ich aufwache, ist der Kalender genau um ein Jahr zurückgesprungen. Dann reibe ich mir jedes Mal die Zukunft aus den Augen und versuche, mich so gut wie möglich in der neuen Situation zurechtzufinden.

      Zum Glück hat sich in meiner Umgebung meist wenig geändert. Manchmal tauschen die Möbel ihre Position, Pflanzen schrumpfen zusammen und Farben leuchten kräftiger. Geografisch wache ich aber immer an dem Platz auf, an dem ich am Abend zuvor eingeschlafen bin. Darum habe ich so große Angst, die Zeit um Mitternacht auf einem Schiff zu verbringen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Jahr vor meiner Abfahrt an der Stelle meines „Zurück“, wie ich diesen unerklärlichen Sprung für mich nenne, gerade wieder ein Fahrzeug befindet, ist doch eher gering, und ich konnte noch nie besonders gut schwimmen. Mein Sportlehrer hat mir damals sogar abgeraten, irgendein Abzeichen, ich glaube, es hieß „Seepferdchen“, zu machen, weil ich im Wasser immer wie ein Walross schnaubte. Das ist ewig her.

      Nein! Das stimmt nicht … ich werde mich wohl nie daran gewöhnen, es richtig auszudrücken: Das ist nicht ewig her, das wird erst in einer Ewigkeit passieren. Da ich in der Zeit zurück reise, ist meine Vergangenheit die Zukunft der Welt und umgekehrt: Die Vergangenheit der Welt ist meine Zukunft. Ich weiß im Jahr 1635 ganz genau, was im Jahr 1640 passieren wird, denn von dort komme ich; die Menschen aber, die ich dann treffe, wissen sehr genau, was mich im Jahr 1630 erwartet, denn diese Zeit haben sie schon hinter sich. Wir nähern uns einander aus entgegengesetzten Richtungen – und ich bin der, der die Zusammenstöße vermeiden muss. Wenn ich erst einmal weiß, wer (oder was) hinter dieser Reise steckt, dann wird es mir auch leichter fallen, sie zu ertragen.

      Ich werde mehr Tinte brauchen.

      Ich kam nach London, weil ich dem Dreißigjährigen Krieg ausweichen wollte. Ich hatte keine Lust, mich mit diesem ganzen politischen Unsinn zu beschäftigen. In Europa wütet das Böse und trägt dabei wechselweise katholische oder protestantische Kleider, während sich England geschickt aus den Wirrungen heraushält.

      Wenn man wie ich die Geschichte im Zeitraffer und zugleich im Rückwärtsgang erlebt, verliert vieles an Bedeutung. Ich verbringe in jedem Jahr nur einen Tag und werde dann schon wieder herausgerissen. So rast die Historie an mir vorbei und beraubt sich damit selbst ihrer Bedeutung. Warum sollte ich etwas ernst nehmen? Ein Menschenleben währet 70 Tage, und wenn‘s hoch kommt, so sind es 80 Tage, und am Ende bleibt nichts als Angst, Elend und Hoffnungslosigkeit. Es ist doch alles sinnlos. Jeder Lichtblick, den ich erhasche, verweist nur auf den nächsten Schatten.

      Mitte diesen Jahres wird es beispielsweise so aussehen, als könnte der Friede von Prag zwischen dem Kaiser und den Sachsen den unseligen Konflikt der Konfessionen endlich zu einem guten Ende führen. Die Menschen schöpfen Hoffnung, Feste werden gefeiert und Freudentränen vergossen – aber ich weiß ja, dass das verheerende Chaos des Krieges noch 13 weitere Jahre durch die Länder ziehen und eine Spur des Elends hinterlassen wird. Der Friede ist nur von kurzer Dauer: Frankreich schlägt sich plötzlich auf die Seite der Schweden und erklärt Spanien den Krieg. Man kann nichts tun, als davonzulaufen.

      Außerdem geht es all diesen heiligen Herrschern schon lange nicht mehr um den rechten Glauben. Sie benutzen die Religion, um ihren Einfluss zu vergrößern. Europa wird zu einem riesigen Sandkasten, in dem die verschiedenen Mächte gegen das Haus Habsburg im Burgenzerstören antreten und dabei beliebig viele „Ameisen“ zerstampfen.

      Ich kam zum Glück rechtzeitig hier an. So früh, dass ich die vielen Schlachtfelder dieses barbarischen Krieges nicht mehr kreuzen musste, und so spät, dass ich mit der verheerenden Londoner Pestepidemie von 1665 nicht in Berührung kam. Das ist einer der Vorteile, wenn man in die Vergangenheit reist. Man weiß rechtzeitig, ob etwas Übles auf einen zukommt.

      Heute Morgen bin ich früh in der zugigen Bauhütte aufgewacht, in der ich zur Zeit arbeite. Ein Bretterverschlag voller schnarchender Einzelgänger, in dem das Röcheln und Schnauben langer Arbeitstage weitergeht und mit dem knisternden Geräusch des Ofens konkurriert. Der Geruch alter, verschwitzter Kleider lehnt an der Wand und grinst einen an.

      Natürlich gab es wieder verwirrte Blicke, wie jeden Morgen, wenn ich für alle überraschend in einer Gruppe auftauche: „Wo kommt denn der her? Was will der hier?“ Aber Handwerker sind zum Glück Zeitgenossen, die viel arbeiten und wenig fragen, wenn man sie in Ruhe lässt. Und ich sage ohnehin immer das Gleiche: „Ich bin heute Nacht eingetroffen, ich soll bei eurem Schaffner als Schreiber anfangen.“

      Da ich in der Regel den Namen des Schaffners, der sich als Leiter der Bauhütte um die Abrechnungen kümmert, und einige seiner Bekannten schon aus der Zukunft kenne, fällt es mir nicht schwer, die verjüngten Arbeiter jeden Morgen neu von der Richtigkeit meines Daseins zu überzeugen. Manchmal erinnert sich dann jemand daran, dass ich schon vor einem Jahr für einen Tag mitgearbeitet habe, und runzelt die Stirn. Das verblüfft und verunsichert mich immer wieder. Die Tatsache, dass ich in die Vergangenheit reise, bedeutet natürlich auch, dass ich Menschen begegnen kann, die mit mir in vorhergehenden Jahren Erfahrungen gemacht haben, aber ich gewöhne mich nicht daran, mit den fragenden und wiedererkennenden Blicken richtig umzugehen. Es ist mir peinlich, nicht reagieren zu können. Bisweilen schließt mich sogar ein strahlender Fremder in die Arme, weil er sich freut, mich wieder zu sehen, und ich versuche dann, aus seinen Worten herauszuhören, was wir gemeinsam in seiner Vergangenheit erlebt haben. Gleichzeitig sehne ich mich nach diesen bescheidenen Augenblicken, weil sie mir vermitteln, dass ich nicht ganz ohne Beziehungen lebe.

      Dass Van Dyck mir das Leben gerettet hat, war sicher die schönste Botschaft aus der Vergangenheit, die ich bisher erhalten habe. Meist vergessen die knurrigen und vor Dreck starrenden Bauarbeiter aber schnell, dass ich schon einmal einen Tag lang mit ihnen Arbeit und Nachtlager geteilt habe. Weggeschickt hat mich in all den Jahren jedenfalls noch keiner. Und wenn, dann wäre es auch nicht tragisch. Ein Kuriosum wie mich kann nichts mehr umwerfen. Schon gar nicht in London.

      Hier fühle ich mich wohl. Erstens tut es mir gut, endlich wieder einmal in einer Großstadt zu sein – 420 000 Einwohner findet man zu dieser Zeit nur selten –, und außerdem wird hier gebaut wie nie zuvor. Überall ragen die Gerippe halbfertiger Architektenträume aus dem Boden und schauen den Betrachter mit ihren hohlen Augen an. Nur die vielen herumwerkelnden Männer lassen hoffen, dass aus den Knochengerüsten bald mit Leben gefüllte Wesen werden. London erschafft sich neu. Da findet ein Tagelöhner leicht etwas zu essen und einen warmen Schlafplatz für die Nacht. Ganz gleich, wo man durch die Randgebiete dieser atmenden Stadt geht, man muss aufpassen, dass man nicht aus Versehen in eine Baugrube fällt. Erst nach dem September 1666, in dem 13 000 Holzhäuser und 73 Kirchen von einer Feuersbrunst vernichtet werden, wird London wieder einer