Fabian Vogt

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er erkennt die Leidenschaften und Nöte des Dargestellten, er kennt dessen Geschichte.“

      Er drehte sich spielerisch um die eigene Achse und ließ dabei ein Glucksen ertönen: „Hör zu. Wenn einer eine solche Geschichte hat wie du, dann ist er ein Kunstwerk. Also muss er ein großer Künstler werden, um sich zu verstehen. Du kannst im Augenblick an deinem Dasein doch gar nichts ändern. Also hast du die Wahl: Du kannst verzweifeln oder etwas aus deiner Lage machen. Du bist so, wie du bist. Dass du dich dagegen auflehnst, ist zwecklos. Ergo: Finde lieber heraus, was mit dir passiert. Und jetzt kommt der kleine geniale Hinweis: Wenn es doch eine Möglichkeit geben sollte, etwas an dir und deinem Leben zu verändern, dann entdeckst du sie nur, wenn du dich erst einmal akzeptierst.“

      Ich spürte, dass ich wütend wurde. „Das versuche ich seit einem Jahr!“

      Van Dyck lachte wieder sein dunkles, geheimnisvolles Lachen, dass ich zum ersten Mal auf der „Marian“ gehört hatte. Dann sagte er bedächtig: „Nein, das versuchst du nicht. Du versteckst dich vor dir. Nachdem du so viel geredet hast, wird es Zeit, dass ich dir eine Geschichte erzähle: Mein Lehrer Peter Paul Rubens, der, das habe ich heute Morgen erst gehört, in Zukunft wie ein Fürst auf seinem Landschlösschen Steen leben will, wusste genau, dass ich als sein Assistent niemals meinen eigenen Stil entwickeln würde. Aber ich war damals gerade 21 und so stolz, bei diesem verehrten Mann arbeiten zu dürfen, dass ich gar nicht auf die Idee kam, mich selbständig zu machen. Weil ich gut war, fürchtete ich mich, sehr gut zu werden. Mein eigener Erfolg stand mir im Weg. Ich hatte so viel erreicht, dass ich mich fast zu früh zufrieden gegeben und dabei meine eigentliche Berufung beinahe verpasst hätte. Darin bin ich übrigens kein Einzelfall. Ich kenne viele Menschen, die sich auf halbem Weg niederlassen und sich dort so bequem einrichten, dass sie den Gipfel aus dem Blick verlieren. Und wer wäre von dem, was ich erreicht hatte, nicht begeistert gewesen? Ich betreute die Werkstatt von Rubens im Palais in Antwerpen, ich vertrat den Meister, wenn er unterwegs war, und konnte sogar seine Signatur auf den Bildern perfekt imitieren. Ich dachte, ich hätte alles, was ich brauche. Dabei hatte ich nichts. Ob jemand ein großer Künstler wird, hängt nicht nur von seinem Talent ab, es hängt auch davon ab, ob er an sich glaubt. Ich war im Grunde ein besserer Leibeigener, einer, der sicher sehr kunstvoll, aber eben doch nur als Nachahmer lebte. Leider war ich zu schwach, um zu beurteilen, wozu ich fähig bin.

      Und … ich brauchte Rubens. Zumindest dachte ich das damals. Weißt du, meine Mutter starb, als ich sieben war, und von da an waren die Künstler meine Familie. Mein Großvater zog als Kaufmann durch die Lande, und mein Vater lobte mich zwar, aber er liebte mich nicht. Ich lebte durch die Künstler, mit denen ich zusammen war. Ich umklammerte den Spatz in der Hand – diesen wunderschönen seidigen Vogel -, obwohl die Taube auf dem Dach auf mich wartete. Mehrfach versuchte Rubens, mich auf einen eigenen Weg zu bringen, doch ich lachte nur.

      Da fing er plötzlich an, mich zu schikanieren. Weil ich nicht im Guten hören wollte, wählte er den brutalen Weg. Er mäkelte an meinen Motiven herum, kritisierte meinen Stil und zerschnitt sogar einmal eines meiner Bilder, weil er es für schlecht hielt. Er machte mir das Leben zur Hölle, um mich zum Himmel zu bringen. Wir schieden im Zorn, und sein letzter Satz war: ‚Du wirst mir noch einmal dankbar sein.‘ Heute bin ich es. Aber es dauerte lange, bis ich es sein konnte. Erst als ich mich nicht mehr nach Antwerpen sehnte, war ich frei, meine eigene Kunst zu finden und meinen eigenen Stil zu entwickeln.

      Verstehst du: Solange du dich nicht von deiner alten Heimat löst, solange du trauerst, dass du die Welt des 20. Jahrhunderts verloren hast, solange wirst du in ihr hängen bleiben. Schneide den Faden ab und finde dich.“

      Ich sprang auf. „Und wie soll ich das bitte machen?“

      Van Dyck streckte mir wortlos die Hand hin, und als ich sie ergriff, zog er mich mit sich. Er führte mich zu einem Holzgestell, auf dem verschiedene Leinwände lagen. Er wühlte darin, zog einige Holzkisten hervor und brummte dabei vor sich hin. Endlich hatte er, was er suchte.

      Er drückte mir einige Bögen Zeichenpapier, eine feine Feder und ein Tintenfass in die Hand: „Schreibe auf, was du erlebst. Und schärfe mit der Feder auch deinen Blick. Hier! Das dürfte für einige Zeit reichen. Wenn ich dir etwas raten darf: Zwei Türen neben meinem Atelier liegt ein kleiner Vorratsraum, in dem Kulissen und Dekorationen unserer höfischen Bühne lagern. Dort kommt nie jemand herein und du kannst in Ruhe über viele Jahre schreiben.“

      Er lachte, immer lauter. Dann hob er die Hand zum Gruß und schlurfte zur Tür. Meine Stimme hielt ihn noch einmal zurück: „Sir! Vielen Dank. Ich würde … Euch gerne noch eine kleine Notiz mitgeben. Bitte lest sie erst in einigen Wochen. Und wenn Ihr mir glaubt, dann wisst Ihr, was Ihr zu tun habt.“

      Ich riss einen schmalen Streifen Papier ab, schrieb die Zeilen, die mir vor fünf Tagen auf der Fleute das Leben gerettet hatten, und überreichte sie ihm.

      Van Dyck grinste schelmisch: „Ganz gleich, wer du bist, ich bedanke mich meinerseits für den unvergleichlichen Abend. Jetzt muss ich aber gehen. Ich möchte mir meine Illusion gerne bewahren. Wer weiß, vielleicht erwische ich ja noch einen Reisevogel, der mich in einer Stunde nach Antwerpen bringt.“

      Kichernd zog er die Tür hinter sich zu.

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