Fabian Vogt

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in dieser Zeit. Ich ließ das verwirrende Dasein geschehen, ohne darin wirklich aktiv zu werden. Mein abendlicher Enthusiasmus in dem kleinen Restaurant und der Brief an Verena waren positive Ausrutscher, Kraftanstrengungen, wie sie mir nachher nicht mehr gelangen. Schließlich schien es viel einfacher, alle Ungereimtheiten dem Schicksal in die Schuhe zu schieben und sich beleidigt zurückzuziehen. Für Maximilian den jüngeren konnte ich mich kurzzeitig aufraffen, für mich selbst fand ich keine Kraft. Ich habe mich später oft gefragt, warum ich damals nicht in der Lage war, mein Leben in die Hand zu nehmen. Es gibt keine Erklärung. Vielleicht ist es wie bei einem Sterbefall. Der Hinterbliebene bleibt derselbe, der er vorher war, und doch lähmt ihn der Verlust für lange Zeit. Das Vakuum, das entsteht, saugt alle Energie, alle Pläne und alle Hoffnungen auf und lenkt die Gedanken so sehr zu dem Vergangenen, dass für die Zukunft kein Raum bleibt. Und wer keine Zukunft sieht, der will dort auch nicht hin. Der will nur zurück. Und weil er das nicht kann, gibt er auf. Bei mir kam zu dieser Lähmung bald darauf auch noch die Angst vor den Auswirkungen meiner anachronistischen Interventionen.

      Ich wollte für mich sorgen und versank doch in Lethargie. Nur meine Zeilen an Verena habe ich mit all der verschmähten Liebe, all den ungesagten Worten und all meiner Einsamkeit gefüllt, die mich damals bedrängten. Sollte ich jemals zurückkehren können, möchte ich diesen Brief auf jeden Fall meinen Unterlagen beifügen, da ich aber wenig Hoffnung habe, gebe ich hier den ungefähren Wortlaut wieder, so wie er nach vielem Nachdenken Stück für Stück in mir hervorgekommen ist:

       Liebe Verena,

       es klingt absurd, aber meine Zeit ist nicht deine Zeit; mein Morgen ist dein Gestern. Wenn du diese Zeilen in 365 Tagen liest, bin ich schon in einem anderen Jahrhundert. Ich weiß nicht, wie ich es verständlicher erklären sollte. Meine Jahre verlaufen jedenfalls anders als deine. Ich kann es selbst noch nicht in Worte fassen. Wie verrückt das ist, erfährst du gerade: Obwohl dieser Brief bereits zwölf Monate lang bei dir liegt, haben wir uns erst vor einem Tag im „Piccolo Giardino“ kennen gelernt. Natürlich wirst du nicht glauben, dass ich dir im Januar 1985 von Ereignissen aus dem Januar 1986 schreiben kann, aber es ist wahr: Ich kenne deine Zukunft. Ich bin aus der Zeit herausgenommen worden und falle haltlos durch die Jahre. Das ist die einzige Erklärung, die ich dir für mein Wissen über dich geben kann.

      Weil ich nicht weiß, wie viel Glauben du mir schenkst, erzähle ich dir eine Episode aus deinem Leben, die du noch nie einem Menschen anvertraut hast: Als du elf Jahre alt warst, hat dich auf einer Geburtstagsfeier der Vater deiner Freundin in eine Abstellkammer gezogen und dir unter den Rock gegriffen. Du hast ihn aus Angst gewähren lassen und dich später so über deine Hilflosigkeit geschämt, dass du fortan alle Männer gehasst hast. „Verena, die Keusche“ haben sie dich im Goethe-Gymnasium genannt, weil du bei den Knutschspielchen nie mitmachen wolltest. Und es fällt dir immer noch schwer, dich von einem Mann berühren zu lassen.

       Gestern habe ich mich als Propheten bezeichnet. Ich kann dir nicht sagen, ob ich einer bin. Und doch ist das, was in diesem Brief steht, deine Zukunft, dein Leben. Es ist, was es ist. Dass ich dir sage, was dich erwartet, muss sein. Auch das lässt sich nicht so einfach erklären. Um es kurz zu machen: Ich werde dir beschreiben, was in den nächsten Jahren mit dir passieren wird. Denn ich weiß, dass es passieren wird.

       Keiner kann den Lauf der Geschichte verändern, ich nicht und du auch nicht. Daher kann ich nicht sagen, welche Chance du hättest, dich gegen das Kommende zu wehren. Du musst selbst entscheiden, was du mit meiner „Weissagung“ anstellst. Ich will auf jeden Fall versuchen, die Dinge nur anzudeuten, damit du nicht als Sklavin dieses Briefes leben musst.

       Max, mit dem du heute Abend verabredet bist, und du, ihr werdet ein Paar werden und einige sehr erfüllte Jahre miteinander verbringen. Max ist ein feiner Kerl. Sicher noch ein bisschen unreif und unsicher, was er mit jugendlicher Arroganz zu vertuschen sucht, aber aus ihm kann etwas werden. Durch dich wird er Lust am Leben bekommen, während deine Sprunghaftigkeit etwas nachlässt. Er wird lernen, sich weniger wichtig zu nehmen, du wirst lernen, dich ernster zu nehmen. Er wird seine Zärtlichkeit entdecken, und du wirst verstehen, welches Geschenk es ist, Zärtlichkeit annehmen zu können.

       Eines ist ganz entscheidend: Du wirst ihm sein Studium der Sonderschulpädagogik ausreden und ihn motivieren, mit Altphilologie zu beginnen. Er ist unzufrieden mit seiner jetzigen Situation, aber noch zu unflexibel, um sich aus den eingefahrenen Gleisen herauszubewegen. Nimm du das für ihn in die Hand. Dein eigenes Studium wird übrigens sehr erfolgreich verlaufen. Vielleicht hilft dir diese Ankündigung, dich mehr auf die großen Zusammenhänge des Daseins zu konzentrieren. Sei nicht zu schnell zufrieden, aber genieß dieses Leben in vollen Zügen.

       Übrigens: Wenn du Ende Februar mit dem Fahrrad zum Reiten fährst, dann schnalle deinen Reithelm nicht auf den Gepäckträger, sondern setze ihn auf. Du wirst stürzen, dank des Helmes aber nur einige Kratzer am Arm abbekommen.

       Ich muss aufhören, sonst übe ich gegen meinen Willen Macht über dich aus. Ich kann mir vorstellen, wie viele Fragen jetzt in dir hochkommen, aber ich darf sie dir nicht beantworten. Hier ist deine Zukunft. Gestalte sie.

       Mit lieben Grüßen

       Dein Christoph

      Als ich den Brief eingeworfen hatte, verlor ich die Kontrolle über mich. Hilflos brach ich zusammen. Meine Muskeln gehorchten mir nicht mehr, und ich fiel über meine Beine, ohne den Aufprall abzudämpfen. So sank ich vor dem noch klappernden Briefkasten auf das Trottoir. Ein Häufchen Elend, über das der eisige Wind dunkle Tropfen wehte. Ich kann mich heute nicht mehr an die Umgebung erinnern. Es wurde alles schwarz. Ja, ich weiß nicht einmal, wie lange ich dort regungslos gelegen habe.

      Ein älteres Ehepaar half mir auf die Beine und blieb bei mir, bis sich mein Kreislauf wieder stabilisiert hatte. In mir und um mich drehte sich alles. Ich torkelte langsam in die Gartenhütte und weinte dort mehrere Stunden leise vor mich hin. Anfangs verstand ich selbst nicht, was mich so niederdrückte, bis ich nach und nach den Grund meiner Verzweiflung entdeckte.

      Nichts stimmte mehr: Ich hatte mich selbst verkuppelt und entmündigt, ich hatte mein Leben verändert und Verena beeinflusst. Ich hatte die Geschichte manipuliert. Ich hatte als winziger David den Goliath Zeit herausgefordert und ihn auch besiegt – aber er war auf mich gefallen. Bis zum Absenden des Briefes war ich der Überzeugung gewesen, ich wäre in jedem Augenblick des bisherigen Lebens Herr meiner Sinne gewesen. Nun wusste ich, wie sehr ich mich geirrt hatte. Ein anderer, ich selbst und doch nicht ich, war in mein Leben eingefallen und hatte all das gesteuert, ferngesteuert, was ich für meine eigene Leistung gehalten hatte.

      Das Absenden eines Briefes machte aus einem scheinbar selbstbestimmten jungen Wissenschaftler eine willenlose Marionette. Erstaunlicherweise empfand ich es nicht als Trost, dass ja auch meine Zeitreise ein für mich unverständlicher Willkürakt darstellte, auf den ich keinen Einfluss besaß. Die brutale Vergewaltigung meines Willens durch mein zweites Ich schmerzte wie eine schwere Eisenkette an meinem Bein. Aber was hätte ich denn anderes machen sollen? Ohne mich hätte Max diese Frau doch niemals kennen gelernt.

      Ich erschauderte ein weiteres Mal, als hätte in meinem Inneren der Wind gedreht. So wie einen bisweilen die Erkenntnis überrumpelt, dass man anstatt die eigentlichen Fragen zu stellen, auf Nebenschauplätzen gerungen hat. Jetzt erst wurde mir bewusst, in welche bösartige, brutale und menschenverachtende Situation ich Verena gebracht hatte. Was erlebt ein Mensch, der einen Brief bekommt, in dem ihm seine Zukunft nicht nur vorhergesagt, sondern aufgedrängt wird? Welche Freiheit hat er noch? Jedes Wort, das ich der jungen Frau geschrieben hatte, stellte eine Verletzung ihrer Persönlichkeit dar, eine tiefe Verwundung, denn ich nahm ihr den eigenen Willen.

      Verena musste im Angesicht der Zeilen um ihr Leben kämpfen. Sie konnte die geheimnisvollen Andeutungen umsetzen oder versuchen, alles anders zu machen. Aber sie konnte dem Fluch der Vorhersagen nicht entgehen, ganz gleich, wie sie reagierte; die Fragen nach deren Richtigkeit würden sich wie ein Phantom an jedem Wendepunkt ihres Lebens aus dem Dunkel erheben und sie verfluchen. Instinktiv wusste ich, dass sie meine Worte akzeptieren würde, denn ich kannte ja die Zukunft. Aber wie viel Überwindung