Fabian Vogt

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erst, als ich das gedacht hatte, wurde mir klar, worüber ich in diesem tristen Augenblick eigentlich weinte: über mich selbst. Über meine unendliche Dummheit und Verblendung. Ich hatte es ja gut gemeint: Ich wollte mich zu meinem Glück zwingen. Aber war mir das gelungen? Hatte ich nicht genau das Gegenteil erreicht? Hatte ich nicht zwei Personen zusammengezwungen, die sich ohne mein Eingreifen zu Recht nicht begegnet wären?

      Plötzlich stand für mich, den weinenden Mann aus dem Jahr 2000, nur noch eine Frage im Raum: „Hat Verena mich jemals geliebt?“ Oder war sie nur mit mir zusammen gewesen, weil ich sie dazu gebracht hatte? Ohne mich zu kennen oder zu mögen, hatte sie auf Grund eines verdammenswürdigen Briefes eine vorherbestimmte Beziehung angefangen. Ich fand kein Taschentuch mehr, um meine verquollenen Wangen zu trocknen. Auf Grund meines eigenen Zutuns entpuppten sich die drei wegweisendsten Jahre meines Lebens als Lüge. Als verhängnisvoller Irrtum. Selbstbetrug! Eine organisierte Liebe. Ich hatte sie quasi aufgefordert, sich zu prostituieren. Und sie war aus Angst vor dem Schicksal darauf eingegangen. Das war sie und nichts anderes: eine Prostituierte der Zeit.

      Hatte sie sich vielleicht nachträglich in mich verliebt? Ich glaube nicht. Nachdem ich nun wusste, wie diese Beziehung angefangen hatte, konnte ich sie zum ersten Mal ohne den Schleier der Verliebtheit betrachten; ein erschreckendes Bild.

      Damals war ich verblüfft gewesen, wie schnell sich diese betörende Frau auf mich eingelassen hatte, und hatte es auf meinen unwiderstehlichen Charme geschoben. Ich war überzeugt gewesen, sie wäre mir sofort verfallen. Kein Wunder. Sie gehorchte ja nur dem brieflichen Schicksal, das sich ihr in Form eines allwissenden Orakels präsentiert hatte. Ich hasste mich für das, was ich mir und ihr angetan hatte.

      Ich rang mit mir selbst und konnte doch nur verlieren. Ich wollte nicht akzeptieren, dass sich Verena wahrscheinlich die ganze Zeit wie in einem Gefängnis gefühlt hatte. Es schien mir unmöglich, dass ich mir diese liebevolle Atmosphäre nur eingebildet hatte. Das war doch eine befreiende, beglückende Beziehung gewesen. Aber wie ehrlich waren ihre Lippen, ihre Hände und ihre Augen wirklich gewesen? Diese hingebungsvollen Umarmungen, das gemeinsame Träumen und Lachen: Das hatte sie alles nicht nur vorgespielt. Oder doch? Und wenn es so war?

      Ich hatte ihre sexuelle Zurückhaltung als Folge ihres Kindheitstraumas gewertet. Viele ihrer kleinen Marotten, an die ich mich im Laufe der Zeit gewöhnt hatte, konnten ebenso Zeichen einer tiefen Traurigkeit sein. Die These, dass sie mich nicht geliebt hatte, würde auch einige ihrer Entscheidungen erklären. Zum Beispiel hatte es damals für sie keinen konkreten Anlass gegeben, zum Examen nach Hamburg zu ziehen. Wollte sie einfach nur weg von mir? Und dann all diese Versuche, mich eifersüchtig zu machen: Waren das Hilferufe gewesen? War das vielleicht ihr Weg, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen?

      Sie konnte unsere Beziehung nicht beenden, denn dann hätte sie die Prophezeiung verletzt. Aber sie konnte dafür sorgen, dass ich von mir aus die Partnerschaft auflöste. Sie wollte die Verantwortung für den Bruch, für die Missachtung des Schicksals nicht übernehmen, hielt es aber auch nicht länger mit mir aus. Sie muss sehr gelitten haben. Ob es so war? Ich weiß es nicht. Im Nachhinein spricht so vieles dafür. All die verborgenen Winkel ihres Charakters, zu denen ich in unseren gemeinsamen Jahren keinen Zugang gefunden hatte, taten sich jetzt auf: Kleine Ungereimtheiten, nachlässig dahingesagte Halbsätze und scheinbar unwichtige Streitpunkte goßen sich auf einmal wie Blei in meine Seele. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt, dass sie mich nie geliebt hatte, dass sie mit mir ausschließlich zusammengewesen war, um dem geheimnisvoll-bedrohlichen Fremden zu gehorchen, der ihr schonungslos eine Zukunft aufgedrängt hatte. Ich war selbst daran schuld. Ich hatte mein und ihr Leben versaut. Ich hatte Gutes gewollt, und es war Schlechtes daraus geworden.

      Erst zwei Tage später war ich wieder in der Lage, mein Refugium zu verlassen. Mit dem festen Vorsatz, nie wieder Einfluss auf den Zeitenlauf zu nehmen, keinem Menschen jemals wieder von meiner Reise zu erzählen, mich und andere in Ruhe zu lassen und mich einfach aus dieser Welt zurückzuziehen.

      1635 Als ich während meiner Erzählung bei meiner selbstgewählten Isolation angekommen war, sah ich aus den Augenwinkeln, dass der Maler den Pinsel niedergelegt hatte. Er atmete schwer. Mit einem kleinen Leuchter in der Hand ging er zu einem der Fenster, öffnete es und warf einen Blick auf den Mond. Lange Zeit sagte er nichts. Dann flüsterte er: „Langsam fange ich an, dir zu glauben.“

      Und als er nicht fortfuhr, fragte ich in die Stille hinein: „Warum?“

      Er drehte sich um: „Warum? Warum? Frag mich etwas Leichteres. Vielleicht, weil du in deiner Geschichte das Opfer und nicht der Held bist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand ein so unglaubliches und zugleich verführerisches Märchen einfallen lässt. Wozu auch? Die Fantasie erzählt uns die unglaublichsten Geschichten. Aber dein Märchen ist Wirklichkeit geworden. Und du musst darin leben. Ich schätze, wir haben noch etwa vier Stunden, dann verschwindest du in der Vergangenheit. Wenn ich dir in irgendeiner Form helfen soll, musst du mir mehr berichten. Irgendwo muss da ein Hinweis sein, irgendetwas, an dem man einhaken kann. Hast du dich nach deinem Zusammenbruch gar nicht mehr um dein jüngeres Ich gekümmert?“

      Ich atmete tief ein: „Doch, natürlich. Es war das Einzige, was ich tun konnte. Außer mir hatte ich doch keinen mehr. Ich drehte mich die ganze Zeit um mich selbst. Aber ich vermied es, zu sehr mit mir in Kontakt zu kommen. Ich sah mich mehrmals auf dem großen rechteckigen Pausenhof unserer Schule unter den Platanen stehen … damals habe ich noch geraucht … ich fuhr sogar einmal mit mir auf der Frankfurter Eisbahn. Ich konnte nicht genug von mir bekommen. Einmal habe ich mir, dem Kind – ich muss so zehn Jahre alt gewesen sein – 50 Mark in die Jacke gesteckt. Doch auch dabei hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich durfte nie wieder – unter keinen Umständen – das Leben eines anderen Menschen beeinflussen.

      Ich wollte mir helfen und konnte es nicht. Ich wollte für mich da sein – und durfte nicht. Aber gerade weil dem so war, verstärkte ich meine Anstrengungen um dieses Kind noch. Und je mehr ich mich hineinsteigerte, desto klarer wurde mir, dass ich mich verlor. Irgendwann war ich fünf, dann nur noch vier Jahre alt. Ich bot sogar meiner Mutter einmal an, auf ihren Kleinen aufzupassen, als sie mir auf einer Parkbank erzählte, sie müsse noch schnell in den Supermarkt. Zehn Minuten lang spielte ich mit dem dreijährigen Jungen, der in mir steckte und in dem ich vorgezeichnet war. Ich genoss es. Ich konnte in meinen Zügen schon mein Lächeln erkennen. Da war mein grimmiges Zusammenziehen der Stirnmuskeln, mein jähes Aufsehen, wenn etwas mich verstimmt, und meine Angewohnheit, wenn ich unsicher bin, die Hände unter die Achselhöhlen zu schieben. Als meine Mutter wiederkam, unterhielten wir uns eine halbe Stunde angeregt, dann nahm sie den Kleinen auf den Arm und verabschiedete sich. Durch das Klettergerüst sah ich mich noch winken, mit einem strahlenden Lachen. Die nächsten drei Tage wartete ich vergeblich darauf, meine Mutter noch einmal mit dem Kinderwagen zu sehen. Sie blieb zu Hause.

      Am Donnerstag, den 4. Februar 1965, wachte ich nicht wirklich auf. Ich wusste, dass ich, dass mein Lebenssinn, nicht mehr da war. Es begann die Zeit vor meiner Geburt. Aber meine depressive Stimmung hatte wahrscheinlich schon ein paar Tage früher eingesetzt. Ich musste ja zusehen, wie alles, was ich kannte, nach und nach verschwand. Meine Welt wurde jeden Tag weniger und auch ich wurde jeden Tag weniger.“

      Van Dyck schloss das Fenster wieder. „Und was geschah dann?“

      „Was heißt das: Was geschah dann?! Nichts geschah dann. Ich bestand nur noch aus Resignation. Seit ich nicht mehr war, wollte ich auch nicht mehr sein. Lange Tage versank ich einfach in mir, dann, Anfang der fünfziger Jahre, ging ich in die Frankfurter Stadtbibliothek, um herauszufinden, in welcher Region ich die beiden Weltkriege am sichersten überstehen würde. Wenig später nahm ich das letzte Geld, das ich noch besaß, und fuhr in den hinteren Vogelsberg. Dort schlief ich in den Scheunen bei den Tieren, bettelte um ein Stück Brot oder setzte mich am Sonntag vor die Kirche. Die Zeit zog einfach an mir vorüber. Die Geschwindigkeit, in der die Jahre vergingen, befreite alle Ereignisse von ihrer Schwere. Sogar Weltkriege, die nur wenige Tage dauern, verloren viel an Grausamkeit, aber mir war ja ohnehin alles gleichgültig. An keinem der sechs Tage, die ich während des Zweiten Weltkrieges verbrachte, sah ich auffallend viele Soldaten. Menschen feierten und Menschen starben, ohne dass es mich berührt hätte.

      Es mag merkwürdig