Fabian Vogt

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Verena!“

      Sie sah mich irritiert an, und erst da wurde mir bewusst, dass ich für sie ein völlig Unbekannter war. Einer, der plötzlich die Anonymität aufbrach. Sie winkte unsicher zurück, und man konnte ihr ansehen, dass sie verzweifelt versuchte, mich einzuordnen, diesen 35-jährigen Kerl, der so vertraut tat. Es war für sie offensichtlich einer dieser grauenhaften Momente, in denen man sich nicht blamieren will, obwohl man mit dem fröhlich grüßenden Gegenüber nichts, aber auch überhaupt nichts anfangen kann. Sie zögerte.

      Ich aber wusste plötzlich, dass ich jetzt etwas tun musste, weil sonst mein 21-jähriges Ich niemals die Bekanntschaft dieser Prachtfrau machen würde. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, mir etwas Gutes zu tun. Nein, ich musste sogar die Initiative ergreifen, wenn mein Leben nicht völlig anders verlaufen sollte, als ich es kannte.

      Weil Verena immer noch unschlüssig zwischen unserem Tisch und ihrer Clique hin- und herblickte, winkte ich sie herüber. Sie flüsterte ihren Freundinnen etwas zu und kam dann an unseren Tisch.

      „Sei nicht böse, aber ich kann mich im Augenblick gar nicht erinnern, woher ich dich kenne!“

      Ich lachte: „Du kennst mich auch nicht, aber jedes Mal, wenn eine schöne Frau den Raum betritt, rufe ich ‚Hallo, Verena‘, und nach 144 Versuchen hat es endlich geklappt. Du ahnst gar nicht, wie selten der Name Verena ist.“

      Sie strich irritiert ihre Haare aus der Stirn: „Erzähl keinen Mist. Also, woher kennen wir uns?“

      „Ich sage es dir, wenn du dich zu uns setzt.“

      Die Neugier siegte. „Aber nur einen kurzen Moment, ich bin ja nicht allein hier.“

      Sie nickte in Richtung ihrer Freundinnen, hängte ihre Handtasche über die Stuhllehne, und dann saß sie bei uns, Verena, die Kantige, die Frau mit den lachenden Augen und dem wissbegierigen Blick. Die Schöne mit den geschwungenen Augenbrauen, in deren Zügen sich noch Spuren ihrer tschechischen Vorfahren fanden. Ich war verzaubert. Meine Nase erkannte ihr Parfum wieder und verliebte sich sofort.

      „Ich bin Christoph, das ist Maximilian.“

      Sie stutzte: „Seid ihr Brüder?“

      „Nein, wieso?“

      „Ihr seht euch irgendwie ähnlich.“

      Maximilian lachte, und ich verzog den Mund zu einem bübischen Lächeln: „Um es mit einem alten Indianersprichwort auszudrücken: ‚In unsern Adern fließt das gleiche Blut.‘“

      „Ach“, sagte Max, „das wusste ich ja noch gar nicht!“

      Verena blickte sich um. „Also, Christoph, auch jetzt, wo ich deinen Namen weiß, fällt mir nicht ein, wann und wo wir uns schon einmal gesehen haben.“

      Ich strahlte: „Du hast mich noch nicht gesehen. Ich dich schon!“

      Sie feixte und ließ zwei kleine Grübchen auf ihren Wangen blitzen. „Ach, bist du ein Spanner?“

      „Nein, ich bin … na, sagen wir mal, ein Prophet, ein Hellseher, ein Wahrsager oder so etwas Ähnliches.“

      „Komisch!“, sagte Maximilian, „ich dachte, du studierst Altphilologie!“

      „Noch nicht, das war doch auch eine Prophezeihung. Ich kann übrigens genauso gut in die Gegenwart sehen. So wie ich Verena auf die Nase zusagen kann, dass ihre Schwester Anja heißt, sie am Palmengarten wohnt und ihr Vater Projektleiter bei der GTZ, der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, ist.“

      Verena zog die Stirn in Falten. „Machst du hier einen auf Privatdetektiv?“

      Ich öffnete vielsagend die Hände. „Na, Philipp Marlowe würde wahrscheinlich nur schwer herausbekommen, dass du am liebsten Käsespätzle isst, dass du dieses Jahr nach Korsika fahren willst, und schon gar nicht, dass du es hasst, wenn man dich am Hals küsst.“

      Jetzt wurde sie blass. Sie warf einen unsicheren Blick zu ihren Freundinnen, die aber untereinander ins Gespräch vertieft waren. Alles an ihr strahlte Verwirrung aus, als wüssten ihre Gedanken nicht, in welche Richtung sie gehen dürften.

      Ich genoss es, mit ihr spielen zu können.

      Langsam fasste sie sich. „Augenblick mal, welche Schuhgröße habe ich, und wie heißt unser Hund?“ Sie zog instinktiv ihre Beine zurück, um ihre Füße zu verbergen.

      Ich spielte lässig mit der Serviette. „Du hast Größe 36, und euer Hund heißt Saphir, aber alle nennen ihn Schnuff. Dass er Saphir heißt, weil dein Vater deiner Mutter zum Hochzeitstag die Wahl zwischen einem Hund und einem Saphirring ließ, soll niemand erfahren, weil deine Mutter Angst hat, dass jemand sie auslacht.“

      Max kniff die Augen zusammen. „Sagt mal, was geht hier eigentlich vor? Habt ihr beiden euch vorgenommen, mich zu verarschen, oder was?“

      Verena schüttelte den Kopf. „Das Gleiche wollte ich auch gerade sagen. Da ist doch irgendein Trick dabei.“

      Max hob theatralisch die Hand. „Also, ich habe damit nichts zu tun, ich kenne Christoph selbst erst seit heute Mittag. Nebenbei: Könntest du über mich auch so viel erzählen?“

      Ich lachte. „Oh, noch viel mehr.“

      Ich hatte das Gefühl, dass ich meinem Ziel näher kam. Wenn Verena und Max mich als gemeinsamen Gegner empfanden, war das eine gute Ausgangsposition. Eben noch waren sie sich fremd gewesen, jetzt überlegten sie schon zusammen, worin mein Geheimnis bestand. Sich selbst zu verkuppeln, ist eine schöne Aufgabe.

      Ich musste schlucken, weil mir einige der vielen wundervollen Momente einfielen, die die beiden zusammen erleben würden: der erste Kuss auf dem Eisernen Steg, der gemeinsame Korsika-Urlaub auf dem kleinen Campingplatz in dem hoch gelegenen Edelkastanienhain, die Bouillabaisse am Hafen von Ajaccio, die Spaziergänge durch den Grüneburgpark, der Moment, als im Stadtbad Mitte Verenas Glitzerbikini-Oberteil beim Sprung vom Dreimeterbrett riss, sie es nicht bemerkte und, als sie aus dem Becken stieg, nur fragte: „Warum guckt ihr alle so komisch?“, der gemeinsam aufgezogene Igel, der schon ganz steif auf der Terrasse gelegen hatte, oder die zärtlichen Treffen im Gartenhäuschen. Für einen kurzen Moment wurde ich auf mich selbst eifersüchtig.

      Während meiner romantischen Gedanken hatte ich an Verena vorbei gesehen. Das war ein Fehler gewesen. Offensichtlich interpretierte sie mein Schweigen falsch. Sie blitzte mich an und sprang wütend auf: „Ich weiß nicht, woher ihr das alles wisst und mit welcher neuen Masche ihr zwei komischen Typen jetzt die Frauen anmacht, aber es ist eine wirklich miese Tour. Habt ihr schon mal etwas von Datenschutz gehört? Hör auf zu grinsen, Christoph, oder wie du wirklich heißt.

      Was meinst du: Wie würdest du dich fühlen, wenn plötzlich jemand vor dir stünde, der dir dein ganzes Leben erzählt? Der so tut, als gäbe es keine Geheimnisse mehr. Als wüsste jeder, was du tust und treibst. Kann sein, dass ihr so etwas toll findet, mich widert ihr nur an! Kann auch sein, dass ihr andere Frauen damit ins Bett bekommt, mich garantiert nicht. Egal, wie ihr an die Informationen gekommen seid, ihr habt kein Recht, mich so auszuspionieren.“

      Ich konnte mich einfach nicht mehr erinnern, ob diese Situation, als ich sie das erste Mal erlebt hatte, auch so abgelaufen war. Verenas Zorn, der alles kaputt zu machen drohte, wäre mir sicher in Erinnerung geblieben.

      Andererseits: 14 Jahre sind eine lange Zeit. Vielleicht hatten die gemeinsamen Glücksmomente den schlechten Start verdrängt, vielleicht werden manche Erlebnisse auch irgendwann aus dem Gedächtnis gelöscht.

      Ich wusste es nicht. Ich spürte nur, dass mir die Situation aus der Hand zu gleiten drohte. Verena hatte ihre Handtasche gegriffen und zwängte sich bereits erregt am Nachbartisch vorbei. Trotzdem drehte sie sich noch einmal um, wohl in der Hoffnung, eine Erklärung zu bekommen. Sie war eben schon immer neugierig.

      Da beschloss ich, alles auf eine Karte zu setzen: „Hast du den Brief noch, den ich dir vor einem Jahr geschickt habe und den du erst morgen öffnen sollst?“

      Verena blieb mitten im Lauf stehen. Natürlich hatte ich die Bemerkung mit dem Brief improvisiert, aber ich