Matthias Falke

Der Actinidische Götze


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es sei nun an der Zeit, dass auch er, Wiszewsky, sein Konkubinat mit seiner Freundin Svetlana legitimiere. Lambert, Reynolds, Kurtz und die anderen Kameraden von der Wissenschaftlichen Crew hatten uns gratuliert. Natürlich hatten wir einen ausgegeben, und es war ziemlich spät geworden. Am frühen Morgen bestiegen wir im kleinen Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE, die gerade auf einer Parkbahn gewartet wurde, ein leichtes Shuttle. Jennifer brachte uns in weniger als einer Stunde in den Orbit des zerklüfteten Gebirgsplaneten Musan. Dass wir den einmonatigen Aufenthalt des Mutterschiffs in diesem System zu einem Besuch dieser entlegenen Welt nutzten, hätte wie eine Verlegenheitslösung anmuten können, wenn es nicht Jennifers ausdrücklicher Wunsch gewesen wäre. Denn in diesem Monat fand das Gu Tsechu-Fest in der großen Gompa von Loma Ntang statt, wo Jennifer sie vor zwanzig Jahren, im Anschluss an ihr Examen auf der Akademie, das Prana-Bindu-Training absolviert hatte. Während ich, wie alle Piloten der Union, im Zuge meiner Ausbildung nur die einfache Form des Prana-Yogas erlernt hatte, hatte sie sich mehrere Monate lang in die wesentlich schwierigere Prana-Bindu-Trance einweisen lassen. Höhepunkt und Abschluss ihrer Initiation war das Gu Tsechu-Fest gewesen, an dem sie nun wieder teilnehmen wollte, denn dieses mehrtägige Ritual fand nur alle zehn Standardjahre statt.

      Als sich die Schleuse öffnete, wirbelte heißer Staub herein, der in der gleißenden Morgensonne zu brennen schien, so dass er uns Atem und Sicht zu nehmen drohte. Zum Glück hatte Jennifer mich vorgewarnt, und ich hatte mir ein dünnes Seidentuch vor das Gesicht gebunden. Wir traten auf das Rollfeld hinaus, wo zum blendenden Licht und dem erstickenden Staub noch ein ohrenbetäubender Lärm hinzu kam, denn an diesem frühen Morgen fanden zahllose Starts und Landungen auf dem Raumhafen von Feba City statt. Leichte und mittelschwere Gleiter brachten Pilger von den entfernten Tälern des Planeten, Shuttles und schwere Drohnen näherten sich vom Orbit her und setzten auf der schmalen und längst überfüllten Betonpiste auf, um tausende weiterer Reisender auszuspucken. Das Gu Tsechu-Fest entfaltete seine Anziehungskraft weit über Musan hinaus. Aus allen Teilen der Galaxis kamen die Gläubigen, um den zehntägigen beschwerlichen Aufstieg zum Kloster auf sich zu nehmen. Nicht allein die Seltenheit des Festes war für dieses Interesse verantwortlich, sondern auch die ganz besondere Heiligkeit seines Höhepunktes, der feierlichen Enthüllung des Actinidischen Götzen, des heiligen Grals der Prana-Bindu-Jünger.

      Ich duckte mich unter den dröhnend auslaufenden Turbinen unseres Shuttles hindurch und sah, indem ich mich wieder aufrichtete, nach Norden hinaus. Die Hauptkette des Ilaya-Gebirges zog sich quer über den Horizont, eine blaue Mauer aus Granit und Gletschereis, die in gerader Flucht zwischen sechs und acht Kilometer über der Sohle des Febatales anstieg. An den höchsten Gipfeln hingen lange Schneefahnen, die sich auf der windabgewandten Seite zu weißen Schleppen und Rüschen kräuselten. Man konnte ahnen, was für gewaltige Stürme dort oben herrschten. Während des Landeanfluges waren wir entsprechend durchgerüttelt worden, und ich hatte verstanden, weshalb der Flugverkehr nur in den verhältnismäßig ruhigen Morgenstunden gestattet wurde. Diese Höhenstürme und die Wirbel, die sie im Lee der Gipfel verursachten, würden nun kontinuierlich an Stärke zunehmen, je höher die Sonne stieg, und sich erst im Laufe der Nacht wieder langsam legen, um bei Sonnenaufgang den Zeitpunkt der geringsten Aktivität zu erreichen. Noch eine, maximal zwei Stunden, dann wäre selbst ein Schiff von der Größe eines Enthymesis-Explorers, das von einem Gigawatt-Feldgenerator abgeschirmt wurde, in den Turbulenzen dieser Jets nicht mehr sicher. Ganz abgesehen davon, dass ein solches Schiff mit Abmessungen von über 300 Metern auf dem Flugfeld von Feba City mit seinem orientalischen Chaos niemals hätte aufsetzen können. Aus dem Orbit war die Ilaya-Kette eine von zahllosen gratigen Strukturen gewesen, die wie ein felsiges Skelett den Bau des Planeten durchzogen. Jetzt ragte sie hoch in den tiefblauen, von Licht dröhnenden Himmel auf, dass man den Kopf in den Nacken legen musste, um zu den höchsten Gipfeln hinaufzusehen. So, durchzuckte es mich, war nun auch Jennifer von den Millionen von Frauen, die es in den Organisationen der Union gab und denen ich hätte theoretisch begegnen können, als einzige übrig geblieben, um unübersehbar in mein Leben zu treten und ihm Kontur zu geben.

      »Beeindruckt?«, fragte sie, die, unhörbar im Lärm des Raumhafens, neben mich getreten war.

      »Durchaus.« Das musste ich zugeben. In jüngeren Jahren hatte ich mich selbst als Bergsteiger versucht, auf der Erde und auf anderen Welten. Aber angesichts dieser Massive, die hoch in die dünne Atmosphäre von Musan aufragten, fast bis in die Stratosphäre dieses Planeten, musste ich mir eingestehen, dass sie keinerlei sportlichen Ehrgeiz in mir wachriefen, sondern nur tiefe Ehrfurcht. Und in diesen unzugänglichen Regionen lebten nun die Mönche des Prana-Bindu-Ordens in ihren Klosterburgen. Die Luft dieser Welt war dünn, trocken und sauerstoffarm. Selbst in Feba, im größten und am tiefsten eingeschnittenen Tal, entsprach sie einer Höhe von über 3000 m auf der Erde. Loma Ntang, die Klosterstadt am oberen Ende des Kaligan-Tales, lag in einer Höhe, die einer irdischen Seehöhe von über 6000 m entsprochen hätte. Auch das war, über die technische Unmöglichkeit, den Ort direkt anzufliegen, hinaus, ein Grund, weshalb man sich ihm in einem zehntägigen Fußmarsch nähern musste. Der Organismus brauchte Zeit, um sich zu akklimatisieren. Würde man dort oben unvorbereitet aus der Druckkapsel des Shuttles steigen, so wäre man nach einigen Minuten ohnmächtig. Nach einigen Stunden mit großer Wahrscheinlichkeit tot. Und nicht zuletzt galt es auch, den Geist auf die Begegnung mit dem Heiligen vorzubereiten und langsam in diese Welt der Extreme, die auch spirituelle Kräfte beherbergte, einzudringen.

      Jennifer hatte die Schleuse wieder verriegelt. Sie machte sich am Gepäckfach im Heck des Shuttles zu schaffen. Von Süden, aus der Richtung des Towers, dessen großer Kopf auf den schlanken Stelzen schwankend in der Lichtflut stand, näherte sich ein viersitziger Gleiter. Er kam in irrwitziger Fahrt auf uns zugeschossen. Unmittelbar, bevor er am Fahrwerk unseres Shuttles zerschellt wäre, drosselte der Pilot den Generator und sprang aus dem Gefährt, das einen ziemlich wartungsbedürftigen Eindruck machte. Die Polster der offenen gravimetrischen Sitze waren zerschlissen. An der Karosserie blätterte der Lack ab. Die Turbine des Feldgenerators war stark korrodiert. Der Fahrer war ein kleinwüchsiger Musaner in einer beigefarbenen, völlig ausgebleichten Monteursuniform. Sein Turban verhüllte den größten Teil seines Gesichts, was in Anbetracht des allgegenwärtigen Staubes sehr vernünftig wirkte. Er wurde von einem Jungen begleitet, der einen zerfetzten Phantasieanzug trug und nochmals um einen guten Kopf kleiner war. Die beiden kamen auf uns zu, wobei sie ihre Gesichter soweit enthüllten, dass wir ihr strahlendes Lachen sehen konnten, und begrüßten uns überschwänglich.

      »Ich bin Pem Ba«, stellte der Ältere sich vor, »und das ist mein Sohn Ming. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise, und heiße Sie herzlich auf Musan willkommen.«

      Er legte die Handflächen aneinander und berührte mit den Fingerspitzen die Stirn.

      »Lang lebe der Lama von Loma Ntang«, rief er aus. »Alles Glück für Sie im Jahr des Gu Tsechu!«

      Diese Mischung von Offenherzigkeit und Frömmigkeit war überwältigend. Selbst ein Eisklotz hätte sich ihr nicht entziehen können. Hinzu kam die Lichtflut an diesem kühlen Morgen und die euphorisierende Wirkung der dünnen Luft. Wir erwiderten die Begrüßung. Der kleine Ming half uns, das Gepäck auf den Gleiter umzuladen. Aber wir hatten ohnehin nur zwei Rucksäcke dabei, da wir in den kommenden drei Wochen auf uns selbst gestellt sein wollten. Um unabhängig von den schwerfälligen Trägerkarawanen und den korrupten Führern, die Ereignisse wie das bevorstehende besonders ausnutzten, sein zu können, wollten wir allein reisen und unser gesamtes Gepäck selbst tragen. Mit Hilfe der Ausrüstungskammer der Enthymesis stellte das auch kein größeres Problem dar. Wir hatten ultraleichte Zelte, Schlafsäcke, gravimetrische Matten, Kleidung und selbsterhitzende Mahlzeiten dabei, um über Monate hinweg autark zu sein, so dass wir uns selbst auf einem vollkommen unbesiedelten Planeten hätten aufhalten können. Nachdem wir den Gleiter bestiegen hatten, rasten wir, im Kraftfeld des Generators einen Meter über der staubigen Piste schwebend, auf den Tower zu. Da wir als Offiziere der Union Diplomatenstatus genossen, schleuste Pem Ba uns an den Abfertigungshallen vorbei, wo tausende von Pilgern geduldig auf ihre Einreise warteten.

      Der Anstand gebot es, Ram Bir Singh, dem Gouverneur von Musan, der in einem pompösen Palast im Zentrum von Feba City residierte, einen kurzen Besuch abzustatten. Der greise Patriarch begrüßte uns mit der gleichen Offenheit und Würde wie sein einfacher Untertan. Er nahm sich eine Viertelstunde Zeit, um mit uns zu plaudern,