Ming uns durch das lärmende und stinkende Gewühl der Innenstadt. Sie führten uns zu einem Restaurant, das sich auf dem Dach eines zehnstöckigen Gebäudes befand. Dort saß man unter freiem Himmel. Lediglich ein schwaches Generatorfeld sorgte dafür, dass der böige kalte Wind, der allgegenwärtige Staub und die aufdringlichen Aastauben, die hier aufgrund der nahen Opferplätze besonders zahlreich waren, abgehalten wurden. Der Blick ging über die ganze Stadt. Im Osten lag das Flugfeld des Raumhafens, der seinen Betrieb inzwischen für diesen Tag eingestellt hatte. Im Westen ahnte man das glitzernde Becken des Febasees, dessen Ufer von kleinen Bungalowsiedlungen und Buden gesäumt waren. Im Süden umschlossen mittelhohe Berge den Talkessel, während der gesamte nördliche Horizont von der Mauer des Ilaya verriegelt wurde.
»Ein herrlicher Ort«, sagte ich und hob mein Glas mit Raq-Schnaps.
»Das haben Sie sehr gut ausgesucht«, stimmte Jennifer zu und prostete unseren beiden Begleitern zu, die bis über beide Ohren strahlten.
»Mögen Sie dem Pranavana näherkommen«, gab Pem Ba zurück, nachdem wir unsere Gläser geleert hatten.
»Das hoffe ich«, nickte Jennifer.
Vorsichtshalber hatten wir den beiden nicht erzählt, dass wir auf Hochzeitsreise hier waren, denn am Gu Tsechu-Fest durfte man nur in vollkommen keuscher Weise teilnehmen. Andererseits machten die beiden lebenslustigen Musaner aber auch nicht den Eindruck, als ob sie in solchen Fragen besonders dogmatisch veranlagt wären.
Mit großem Appetit machten wir uns über die Speisen her, die nun in zahllosen winzigen Schüsselchen aufgefahren wurden. Das meiste war exquisit gewürzt, manches so scharf, dass es einem den Schlund versengte, anderes von völlig unidentifizierbarer Konsistenz. Wir tafelten unter dem tiefblauen frostklaren Himmel, bis die Mittagsbewölkung die Berggipfel zu verschleiern begann. Nach der Mahlzeit bot Pem Ba mir eine der leichten Qat-Zigaretten an, wie sie alle Männer auf Musan zu rauchen pflegten, und als er sah, wie ich den Geschmack und die entspannende Wirkung des Qats genoss, rief er einen der Kellner heran und bat ihn, mir ein Päckchen davon zu besorgen. Er bestand sogar darauf, mir die Zigaretten zu schenken, und es wäre eine grobe Unhöflichkeit gewesen, eine solche Aufmerksamkeit abzulehnen. Dann brachten Pem Ba und sein Sohn uns bis ans Nordufer des Febasees, wo sich das langgestreckte Kaligan-Tal öffnete und alle befahrbaren Straßen endeten. Ab hier ging es nur noch zu Fuß weiter. Wir verabschiedeten uns von den beiden und schulterten unsere Rucksäcke. Und noch am selben Nachmittag begannen wir mit dem Aufstieg zur Großen Gompa von Loma Ntang.
Das Tal von Kaligan knickte in rechtem Winkel vom Becken des Febasees ab. Im Gegensatz zum Febatal, das dem Gebirge parallel verlaufend vorgelagert und breit genug war, um einer Stadt und einem Raumhafen Platz zu bieten, war die Schlucht von Kaligan tief und senkrecht eingeschnitten. Sie durchschnitt die Ilaya-Kette dort, wo sie am höchsten war, so dass die beiden Hauptgipfel des Gebirgszuges einander dicht gegenüberlagen, getrennt durch den viele Kilometer tiefen, an seiner Sohle nur wenige hundert Meter breiten Canyon von Kaligan. Sowie die Sonne morgens über die östlichen Randberge stieg, begannen starke thermische Winde durch diesen natürlichen Windkanal zu heulen, die sich im Tagesverlauf zur Wut eines kontinuierlichen und berechenbaren Orkans steigerten, der so stark war, dass er jede Flugbewegung in der schmalen Schlucht unmöglich machte und das Aufkommen jeglicher Vegetation verhinderte. Während des Aufstiegs hatte man diese Winde im Rücken. Sie schoben einen nach Loma Ntang hinauf, aber da sie so kräftig waren, dass sie einen umzuwerfen drohten, waren sie selbst in dieser Richtung eher hinderlich als angenehm. Im Abstieg kamen sie dem erschöpften Pilger entgegen, der sich mit dem Körper in sie hineinstemmen und gegen sie ankämpfen musste. In dieser Richtung stellte jeder Schritt ein Stück Arbeit dar. Jede Etappe war ein mühevoller Sieg, der den Elementen abgerungen werden musste. Die meisten Pilger achteten daher darauf, den Rückweg von der Klosterfestung bei Nacht zurückzulegen, wenn die thermischen Orkane weitgehend eingeschlafen waren, und sie ruhten tagsüber im Windschatten niedriger Mauern, die überall an den Rastplätzen aus groben Felsblöcken aufgeschichtet waren. Manche Pilger betrachteten es aber auch als Buße, den Aufstieg zur Großen Gompa bei Nacht zu absolvieren, um die Unterstützung durch den Rückenwind nicht beanspruchen zu können, und sie wanderten tagsüber talauswärts, dem tobenden, staubigen und sengend heißen Wind entgegen, der ihnen das Fleisch von den Wangen schmirgelte, um nach dem Segen, der ihnen im Kloster erteilt worden war, nicht überheblich zu werden, sondern eine demutsvolle Haltung zu bewahren. Die Frömmsten von ihnen wiederum maßen den zehntägigen Weg mit ihrem Körper aus, wobei sie sich flach auf den Bauch warfen, die Stirn in den glühenden, vom Sturm aufgewühlten Sand pressten, und dann soweit nach vorne krochen, bis ihre Füße in der Kuhle zu stehen kamen, woraufhin sie die Niederwerfung wiederholten. Manche nahmen nichts zu sich, während sie dieses Ritual vollzogen, und manche verweigerten sich jede Nachtruhe und noch die geringste Pause. Sie langten, später als jene, die sich täglich einen kleinen Schlaf gegönnt hatten, ausgemergelt und taumelnd, mit Blicken die nichts Menschliches mehr hatten, bei der Großen Gompa von Loma Ntang an, stürzten in der Großen Opferhalle nieder und blieben liegen wie tot. Nach einiger Zeit kamen Mönche des Klosters, hoben sie auf, brachten sie in das Hospiz, das dem Kloster angegliedert war, und päppelten sie wieder auf, um sie kräftig genug für den Rückweg zu machen. Manche blieben auch unterwegs liegen. Man ließ sie dort, wo sie in kurzer Zeit an Erschöpfung und Auszehrung starben. Sie riefen nicht um Hilfe, und es war verboten, ihnen Hilfe aufzudrängen. Wenn man sich ihrer annahm, verstieß man sogar gegen eines der stärksten Tabus, die es im Glauben des Prana-Bindu-Ordens gab, denn, während der Pilgerfahrt zum Gu Tsechu-Fest zu sterben, beförderte die Seele des Gläubigen unmittelbar ins Pranavana. Von der offiziellen Lehre war es zwar verboten, einen solchen Tod zu provozieren, da das Pranavana sich dem entzieht, der es erzwingen will, dennoch gab es Pilger, die die Reise ausgezehrt und von wochenlangem Fasten erschöpft antraten. Ihre Gerippe lagen dann schon bei der zweiten oder dritten Etappe am Wegesrand.
Ich war anfangs recht skeptisch gewesen, als Jennifer mir von diesem Klosterfest erzählte, das das Ziel unserer Hochzeitsreise sein sollte. Eingepfercht unter Zehntausenden religiöser Fanatiker - so hatte ich mir meine Flitterwochen nicht gerade vorgestellt. Aber sie beruhigte mich und wies auf die Weite der menschenleeren Landschaften von Musan hin, in denen wir ungestört sein würden. Tatsächlich waren wir, kaum dass wir jenseits des Nordufers des Febasees in das Kaligan-Tal eingetaucht waren, die einsamsten Wesen auf der Welt. Die vielen tausend Pilger, die wir am Raumhafen gesehen hatten und die doch alle den gleichen Weg gingen, verloren und zerstreuten sich in der riesigen Schlucht. Außerdem kannte Jennifer, die hier während ihrer Ausbildung viele Monate zugebracht hatte, zahlreiche Seitentäler, parallel verlaufende Canyons und abgelegene Pfade, die es uns erlaubten, der Masse der Reisenden auszuweichen. Da wir außerdem völlig autark waren, was Proviant und Übernachtung anging, berührten wir den Strom der Pilger nur, wenn wir es darauf anlegten. Dann tauchten wir für eine Stunde in die Menschenmenge ein, die sich als schwarzer Bandwurm die Talsohle hinaufwand. Meist sahen wir sie aber nur aus der Ferne, von einem in schwindelnder Höhe verlaufenden Felsensteig aus etwa, den Jennifer mich entlangführte. Dann kroch die schwarze Ameisenstraße in der Tiefe unter uns dahin. An den Nächtigungsorten wuchsen allabendlich ganze Zeltstädte aus dem Kiesbett am Grund der Schlucht, in den Windschatten grober Steinwälle geduckt. Wir schlugen unser Lager weiter oben auf, auf einem Vorsprung, der wie ein Adlerhorst über einer Felswand hing, oder auf einem Pass, der zwei Seitentäler miteinander verband. Die Zeltkuppel, die wir mit uns trugen, baute sich selbst in wenigen Augenblicken auf und verankerte sich im Untergrund. Wir traten ein und verriegelten die Schleuse. So hatten wir schon auf über einem Dutzend unbewohnter Welten gelebt, von denen einige nicht einmal eine Atmosphäre aufgewiesen hatten. Wir kümmerten uns um unsere Ausrüstung, die in der Hitze, dem Staub und den scharfen Winden nicht wenig litt. Dann nahmen wir eine der selbsterhitzenden Mahlzeiten zu uns, die aus der Kombüse der MARQUIS DE LAPLACE stammte und die wir seit vielen Jahren von unseren Flügen auf der Enthymesis gewohnt waren. Anschließend zogen wir uns aus und liebten uns auf der gravimetrischen Matratze. Hinterher plauderten wir, oder wir lasen noch eine Stunde im hellblauen Licht der selbstleuchtenden Kuppel. Jennifer hatte mir eine Einführung in die Prana-Bindu-Trance gegeben, die mich aber nicht zu fesseln vermochte. Meist zog ich es vor, mir den staubigen Anzug wieder überzuwerfen, mich durch die Schleuse zu drücken und im Freien noch eine Qat-Zigarette zu rauchen, während ich zusah, wie das scheidende Licht die Berge