Matthias Falke

Der Actinidische Götze


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ich. »Ich schätze dich, ganz unabhängig von unserer persönlichen Beziehung, als eine der besten Wissenschaftsoffizierinnen der Union. Deinen unbestechlichen logischen Verstand habe ich immer bewundert. Aber du scheinst entschlossen, den fachlichen Respekt, den du dir in über zwanzig Jahren erworben hast, in Minutenschnelle zunichte zu machen.«

      Sie ging darauf gar nicht ein.

      »Im übrigen«, führte sie den vorigen Gedanken weiter, »wird man niemals die Chance bekommen, das Material wissenschaftlich zu untersuchen. Der Götze wird niemals zu einer solchen Entweihung herausgegeben werden. Tsen Resiq und sein Orden, bis hinunter zum kleinsten Mönch, würden ihn mit ihrem Leben verteidigen und sich lieber bis zum letzten Mann abschlachten lassen, als zuzusehen, wie ein Unreiner den Götzen in die Hand nimmt oder ihn auch nur zur Unzeit und ohne die vorgeschriebenen Riten enthüllt.«

      Ich schwieg. Es gibt so viele Dinge, die man auf sich beruhen lassen muss, in der Wissenschaft ebenso wie, so dämmerte es mir jetzt, in einer guten Ehe. Eine beiläufige Handbewegung, die ich in die Stille unseres Zeltes schrieb, sollte lediglich besagen, dass ich nicht vorhatte, mit dem Instrumentarium der positiven Wissenschaft in diese Mysterien einzudringen, und dass ich es akzeptierte, dass es Bereiche gab, die der logischen Erkenntnis verschlossen blieben.

      »Das ist auch gut so«, kommentierte Jennifer meinen gestisch ausgedrückten Rückzug. Und indem sie ihr süßestes Lächeln hervorzauberte, tief aus der Trickkiste weiblicher Verführungskunst, die mindestens ebensoviele Mysterien bereithält wie alle anderen Religionen zusammen, sagte sie noch: »Ich nehme die Wissenschaft sehr ernst. Aber ich weiß, dass auch sie ihre Grenzen hat.«

      Dutzende Becken schlugen synchron zusammen und erzeugten einen blechern hallenden Ton. Trommeln wurden in Schwingung versetzt und zu rollenden Rhythmen aufgepeitscht, die keinem erkennbaren Metrum folgten, denen aber dennoch eine sehr präzise Struktur zugrundelag. Dann setzten die mehrere Meter langen Tempelposaunen ein, deren goldene Rohre von jeweils drei Novizen gestützt wurden, und ließen die Luft im großen Freihof vibrieren. Näselnde Schalmeien fielen ein und schleuderten spitzige, ekstatische Aufschreie zwischen den Donner der Trommeln und die zwerchfellerschütternden Töne der Posaunen. Diese Darbietungen, unterbrochen von Maskentänzen, Rezitationen und Ansprachen in einem mir unverständlichen Idiom, dauerten schon mehrere Stunden. Alles, was ich sah und hörte, selbst die Gerüche der Opferfeuer, der Rauchgaben und Blumenwunder, die Berührungen unserer Nachbarn, die sich plötzlich und unvorhersehbar erhoben und wieder niederwarfen, dass die einfachen Holzbänke ächzten, bis hin zum Geschmack der kleinen Mahlzeiten, die zwischendurch herumgereicht wurden, war mir vollkommen fremd und undurchsichtig. Wir waren vor Sonnenaufgang aufgestanden. Während ich ein improvisiertes Frühstück aus Trockenei und selbsterhitzendem Kaffee zu mir genommen hatte, hatte Jennifer noch einmal meditiert und dann erklärt, dass sie heute bis zum Beginn der Feier fasten werde. In der eisigen Hochgebirgsnacht, als noch die Sterne und der Zwillingsplanet Sin Pur als schmale Sichel am Himmel standen, hatten wir unsere Plätze auf einer der Tribünen eingenommen. Der Hof hatte sich rasch bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Atem der vielen tausend Menschen vereinigte sich und stieg als silbriger Dampf über den Köpfen auf. Die Kälte war anfangs kaum zu ertragen. Mit dem ersten Lichtstrahl hatten die Mönche und Lamas die Freitreppe betreten und unter der Leitung Tsen Resiqs mit der Zeremonie begonnen. Eine zeitlang saßen wir genau an der Grenze von Sonne und Schatten, als der weißstrahlende Zentralstern des Systems in quälender Langsamkeit höher stieg. In der dünnen, feuchtigkeitslosen Hochgebirgsluft war die Schattenlinie zugleich ein schwer vorstellbarer Temperatursprung. Die Sonne brannte, da die Atmosphäre ihr keinen Widerstand mehr bot, während die Luft im Schatten nicht den geringsten Teil der Wärme bezog. Eine Stunde lang wurde mein rechter Arm geröstet, während der linke vor Kälte taub und gefühllos war. Dann war die Sonne endlich so weit gestiegen und nach Süden herumgezogen, dass sie uns gleichmäßig erwärmte. Wir wurden jetzt zwar fast gebraten, aber man wusste doch, worauf man sich einzustellen hatte. Ich verstand jetzt auch das Wesen der Prana-Bindu-Trance. Sie war nicht nur die Frucht eines jahrtausendelangen Aufenthaltes an Orten wie diesem, ihre Beherrschung war umgekehrt die unabdingbare Voraussetzung, um ein Leben unter diesen Umständen überhaupt aushalten zu können.

      Jennifer war die ganze Zeit nicht ansprechbar. Anfangs hatte ich mit ihr zu flüstern versucht und sie gebeten, mir die Funktion der einzelnen Teile der Zeremonie zu erläutern, der ich doch wenigstens offen und unvoreingenommen begegnen wolle, aber sie hatte mürrisch und unwillig reagiert, von einem bestimmten Zeitpunkt an überhaupt nicht mehr. Ich musste es also dabei bewenden lassen, die schmetternde Geräuschkulisse, die als Musik wahrzunehmen mir nicht gelingen wollte, über mich ergehen zu lassen, die Tänze zu betrachten, deren Symbolik mir verschlossen blieb, und den Rezitationen zu lauschen, von deren Inhalt ich vermutlich selbst dann nichts begriffen hätte, wenn ich der Sprache teilhaftig gewesen wäre, in der sie vorgetragen wurden. Irgendwann, es war, wie ich dem Sonnenstand entnahm, bereits Nachmittag, schien sich das Spektakel seinem Höhepunkt zu nähern. Die Lieder wurden feierlicher, das teilte sich sogar mir mit. Die Tänze gravitätischer, die Explosionen der Instrumente wurden noch gewichtiger. Sie bekamen etwas von der Unwiderleglichkeit eines Naturgeschehens.

      »Jetzt«, zischte Jennifer.

      Das war seit etlichen Stunden das erste Wort, das sie an mich richtete. Das erste Zeichen dafür, dass ihr meine Anwesenheit noch bewusst war.

      Vier Mönche traten vor. An den großen halbmondförmigen Mützen aus gelben Samt erkannte ich, dass es, nach Tsen Resiq selbst, die höchsten Würdenträger des gesamten Ordens waren. Sie trugen eine Schatulle aus schwarzem Holz. Unwillkürlich war ich enttäuscht. Ich hatte mit der Enthüllung eines viel pompöseren Gegenstandes gerechnet, und auch, als ich mir sagte, dass die äußeren Abmessungen ja nichts über die spirituelle Bedeutung eines solche Fetisches besagten, konnte ich ein Gefühl der Ernüchterung nicht gänzlich unterdrücken. Die Schatulle wurde auf ein Podest gestellt, das mit gelbem Samt verkleidet war. Ihre Beschläge leuchteten golden, als die Sonne jetzt gleißende Reflexe aus ihnen schlug, während das Schwarz des Holzes vollkommen glanzlos blieb. Die vier Mönche traten zurück. Tsen Resiq schritt würdevoll zur Front der Schatulle. Ein mächtiger Beckenschlag ließ die Menge zusammenfahren, die schon den Atem angehalten hatte. Dann herrschte vollkommene Stille. Von der ganzen vieltausendköpfigen Menge war kein Laut zu vernehmen, kein Lachen, kein Husten, kein Räuspern. Selbst die Kinder, von denen zuvor einige geweint hatten, waren instinktiv verstummt. Der Lama murmelte einige Verse, und obwohl er über hundert Meter von uns entfernt stand, konnten wir jedes Wort vernehmen. Er legte die Handflächen ineinander, schloss die Augen, berührte mit den Fingerspitzen die Stirn und legte dann beide Hände flach auf die Schatulle. Plötzlich, aus einem Moment der Sammlung aufzuckend, öffnete er mit einer raschen Bewegung die beiden Flügel der Schatulle, griff hinein und nahm einen Gegenstand heraus, den er mit beiden Händen hoch in den Himmel stieß.

      Ein Raunen ging durch die Menge, etwas wie ein chorisches Atmen. Die Zehntausend waren nur noch ein einziges Wesen, über dem der Rhythmus des Lebens flutete, verebbte, neu anschwoll und sich brach wie die Dünung eines abendlichen Ozeans. In einer feierlichen unio mystica hoben und senkten sich die Brüste der zahllosen Pilger, während ihre Blicke in einem Punkt zusammenschmolzen, dem Actinidischen Götzen, den Tsen Resiq der Gemeinde und dem Himmel präsentierte. In diesem Augenblick veränderte sich das Licht. Es wurde fahl. Obwohl es nicht eigentlich dunkel wurde, verloren die Gegenstände mit einemmal alle Farbe. Das Raunen und Stöhnen der Menge gewann an Kraft und Intensität. Etwas wie ein Schlagschatten legte sich über die Szene, das Echo eines gewaltigen schwarzen Tuches, das dem Licht allen Glanz und alle Resonanz nahm. Hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben? In den sechs Tagen, die wir seit der Durchquerung des Tors des Todes auf der Nordseite der Ilaya-Kette zubrachten, hatten wir nicht den Anflug einer Wolke am Himmel gesehen. Und plötzlich wusste ich, was geschehen war. Es wäre sogar vorhersehbar gewesen. Innerlich verfluchte ich mich selbst dafür, dass ich mich so nachlässig auf das Ereignis vorbereitet hatte, und ich nahm mir vor, Jennifer, sowie sie wieder ansprechbar geworden sein würde, dafür zur Rede zu stellen, dass sie mich nicht vorgewarnt hatte. Das Atmen der Menge wurde ruhiger, langwelliger und zugleich schwerer. Es war das tiefe Atmen einer Frau, die im warmen Wasser eines Gebärbeckens sitzt und zwischen den Wehen Luft schöpft, weil sie weiß, dass jetzt gleich der Schädel ihres Neugeborenen hervortreten