Volker Schult

Manila oder Revolution und Liebe


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Nähe zu der geschäftigen Calle Escolta, die wiederum am Pasig Fluss liegt.

      Viel Ruhe gibt es dadurch aber nicht, außer um die heiße Mittagszeit, wenn ganz Manila ihre Siesta macht. Ansonsten herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, ein Klappern der Kutschen, ein Rufen und Schreien der geschäftigen Händler, dazwischen das unaufhörliche Gekläffe der Hunde, dann das Platschen und laute Knallen der in kurzen Abständen heraufziehenden tropischen Regengüsse. Wie unversehens die ganze Escolta unter Wasser steht, versetzt Agnes immer wieder in Erstaunen. So schnell die Wassermassen gekommen sind, so schnell verschwinden sie aber auch wieder. Sofort danach setzt die Geschäftigkeit wieder ein und alles beginnt von vorne.

      Auf der anderen Seite des Flusses ragt das spanische Machtzentrum mit dem Fort Santiago empor. Mit seinen zweihundertsechsundzwanzig Geschützen jeglichen Kalibers schützt es Intramuros, die von Mauern umgebene Altstadt von Manila. Dort residieren und herrschen die spanischen Gouverneure mit ihren Beamten und vor allem die spanischen Geistlichen aller möglichen Orden. Sie sind die wahren Herren der Philippinen, so sagt zumindest Onkel Ferdi.

      Das Manila außerhalb von Intramuros sieht anders aus. Hier wohnen all die Leute, die eine solch große Stadt am Leben erhalten. Um die Versorgung kümmern sich die Bauern, Fischer, Kleinviehhalter, Bäcker, Konditoren, Wursthersteller, Fleischer, Schnapsbrenner, Weinverkäufer, Palmweinhersteller und alle weiteren Produzenten von Waren rund um das Essen und Trinken. Für die zahlreichen Bauten stehen Zimmerleute, Dachdecker, Ziegelbrenner, Klempner und Metallarbeiter zur Verfügung. Dann gibt es Schneider, Apotheker, Silberschmiede, Mattenflechter, Kerzendreher, Schildermacher und Drucker.

      In den letzten Jahren sind Zigarrenmanufakturen, Hanfdrehereien, Zuckerraffinerien, die San Miguel Bierbrauerei, die gewaltigen Fabrikgebäude für Tanduay-Rum mit ihren gigantischen Schornsteinen, den höchsten Manilas, geradezu aus dem Boden geschossen. Hier haben viele Frauen als Arbeiterinnen Beschäftigung gefunden. Daneben fristen die zahlreichen ungelernten Arbeiter, die für Hilfsarbeiten angeworben werden, ihr Dasein. Sie schachten Kanäle aus, arbeiten an den Kais oder pflastern die Straßen.

      Schon bald wird Agnes aber von einem ganz anderen Gedanken abgelenkt. Selbstmitleid macht sich bei ihr breit. Wie kann es sein, dass gerade in dem Moment, als sie wieder aus Manila abreisen will, die Amerikaner mit ihren großen Schiffen ankommen und die gesamte spanische Flotte in Grund und Boden bohren? Ist es nicht schon ein Jammer, dass diese kleinen braunen Aufständischen immer weiter auf Manila vorrücken und die Stadt einschließen, sodass man auch gar keine unbeschwerte Ausfahrt mehr in die Umgebung unternehmen kann?

      Und nun das. Die Amerikaner haben eine Blockade über die Bucht von Manila verhängt. Kein Schiff darf mehr einlaufen beziehungsweise auslaufen.

      Dabei war alles so schön geplant. Sie wollte am übernächsten Tag mit einem britischen Dampfer nach Singapur reisen und dort einen Postdampfer des Norddeutschen Lloyd nach Bremerhaven nehmen. Alle Reservierungen waren schon vorgenommen worden.

      Aber nun ist die Bucht von Manila wie zugenäht. Bei diesen Worten läuft doch ein kleines Schmunzeln über ihre schmalen blassroten Lippen. Das sich aber dann doch schnell wieder verzieht.

      Eigentlich war es eine ganz gute Idee von ihrem Vater, sie auf eine Reise in die Tropen fern der Heimat zu schicken. Das Abenteuer sollte sie auf andere Gedanken bringen. Nachdem sie die Nachricht von dem Untergang des Salpeterdampfers Wiedenau mit Mann und Maus, kurz nachdem er Valparaíso im fernen Chile verlassen hatte, erreichte, war Agnes in eine wochenlange Depression verfallen. Der Verlust ihres Verlobten Hermann, der Erster Offizier auf der Wiedenau war, hatte sie bis ins Mark getroffen.

      Die ohnehin schlanke Agnes war bis auf die Knochen abgemagert. Nichts schien zu helfen. Natürlich trug das typische schmuddelige Winterwetter Hamburgs auch nicht dazu bei, die trübselige Stimmung aufzuhellen. Und dann das fürchterliche Mitleid der ganzen Familie und ihrer Freunde. Solch ein Trost tat ihr in der Situation zunächst gut, aber als er nicht aufhörte, fiel es ihr schwer, wieder halbwegs ins normale Leben zurückzukehren.

      In dieser für alle verfahrenen Situation hatte dann ihr Vater die Idee, den Zufall, dass Onkel Ferdinand zum Konsul im fernen Manila im letzten Jahr ernannt worden war, zu nutzen. Kurzerhand setzte er sich mit Onkel Ferdinand in Verbindung und erhielt von ihm die Zustimmung, Agnes zu ihm zu schicken, damit sie im wahrsten Sinne des Wortes auf andere Gedanken kommt. Eine ungewöhnliche Entscheidung. Aber so ist ihr Vater nun einmal.

      Mit ihren gerade einmal vierundzwanzig Jahren konnte sie nicht dauerhaft in Depression verfallen. Das war auch ihr in klaren Momenten offensichtlich geworden. Erst widerwillig, dann aber doch mit etwas größerer Zuversicht, stimmte sie schließlich der Idee ihres Vaters zu.

      Aufgrund der guten Verbindungen ihres Vaters zu Johann Godeffroy, Abkömmling einer Hugenottenfamilien, jetzt Reeder und Besitzer unter anderem der Jaluit Südseegesellschaft, konnte er für Agnes schnell und unkompliziert einen Platz auf dem Frachtsegler Emily Godeffroy finden, der über Singapur in die deutschen Südseebesitzungen ging. In Singapur musste sie dann ihre Reise mit einem britischen Dampfer nach Manila fortsetzen. Was sich aber als nicht zu schrecklich, wie anfangs von ihr befürchtet, herausstellte. Besonders der Kapitän hatte sich ihr gegenüber als vollendeter Gentleman hervorgetan.

      Wenn sie jetzt an die Reise zurückdenkt, begann das Abenteuer eigentlich schon kurz nach dem Ablegen aus dem Hamburger Hafen. Alleine die Vorstellung an die bevorstehende lange Reise, der sie anfänglich skeptisch gegenübergestanden hatte, tat ihr gut. Schnell erfuhr sie Ablenkung und kam auf andere Gedanken. Das musste sie zugeben.

      Sie sieht noch alles vor sich, als ob es heute wäre.

      Als Agnes den Frachtsegler im trüben, nebligen norddeutschen Schmuddelwetter an den Landungsbrücken liegen sah, wollte sie schnellstens umkehren. Alleine die Vorstellung, dass das Schiff um die hundert Tage benötigen würde, um an sein Ziel in der Südsee und anschließend nach Australien zu gelangen, machte ihr zu schaffen. Dann beruhigte sie sich etwas und redete sich ein, dass es nach Singapur bei günstigen Winden ja nur sieben bis acht Wochen seien. Trotzdem, ihr Leben diesem einhundert Meter langen aus Stahl genieteten Schiffskörper für Wochen anzuvertrauen, dazu gehörte schon etwas. Auch der Blick auf die holzgeschnitzte Galionsfigur am Bug mit ihren üppigen Brüsten ließ keine positive Stimmung aufkommen. Allemal nachdem Agnes mit ihren großen Augen einen Vergleich mit ihrer nicht allzu ausgeprägten Oberweite angestellt hatte. Doch dann ließ Agnes mit einem kleinen Ruck des Kopfes ihre kastanienbraunen lockigen Haare im Morgenwind wehen. Mit Genugtuung rief sie sich in Erinnerung, dass sie wenigstens mit ihren Haaren bisher bei den Männern punkten konnte.

      Neben der Fracht, die insbesondere aus Handels- und Tauschgütern für die Südseeinsulaner bestand, kamen auch allmählich die anderen Passagiere an Bord. Als sie diese betrachtete, lief ihr ein leichter Schauer über den Rücken. Es handelte sich um Frauen und Männer, die in die Südsee oder nach Australien auswandern wollten. Besonders die Männer, die im niedrigen Zwischendeck untergebracht waren, ließen sie erschaudern. Muskelbepackt und stark tätowiert. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Bei dem Gedanken, wochenlang mit ihnen auf diesem kleinen Schiff zusammen sein zu müssen, bekam sie eine Gänsehaut. Wie fürchterlich. Alleine diese Vorstellung. Schrecklich.

      Gut, dass Agnes nicht wusste, dass es sich bei den Passagieren um kürzlich aus den Haftanstalten Hamburgs entlassene Sträflinge handelte.

      Jetzt wurde es Zeit an Bord zu gehen. Unter Tränen und vielen Küsschen hier und dort verabschiedete sich Agnes schweren Herzens von ihren geliebten Eltern. Schnell waren die kleinen, säuberlich gebügelten, spitzenverzierten Taschentücher von Mutter Kröger und ihrer Tochter Agnes nass.

      Dann gab es kein Zurück mehr. In ihren kleinen Stiefelletten stakste Agnes den Laufsteg an Bord des Schiffes hinauf. Mit ihren kleinen Händen hielt sie sich am Tau fest. Doch die Kälte ließ es kaum zu, dass sie ein Gefühl in ihre Hände bekam. Auch war die Gangway rutschig. Ob ihre Stiefelletten die richtigen Schuhe waren? schoss es ihr noch durch den Kopf. Doch dann war es auch schon zu spät. Sie rutschte aus, ihre klammen Finger fanden an dem Tau der Gangway keinen Halt mehr. Der Fall unvermeidlich.

      Fast war sie schon am Boden, merkte förmlich, wie ihr rechtes Knie auf die Gangway aufschlug.

      Als