setzen wir nun die Geschichte fort und begleiten Clarissa und Heiko bei ihrem alltäglichen Bemühen, den sich ausbreitenden Widrigkeiten und Verfolgungen inmitten Deutschlands während der neunzehnhundertdreißiger Jahre mit mutiger Aufrichtigkeit und menschlichem Anstand zu begegnen und letztendlich zu entkommen.
Die harsche politische Realität dieser Zeit stellt dabei wiederholt gefährliche Klippen ins Fahrwasser, die es geschickt zu umschiffen gilt.
Dazu weht ihnen ein anschwellend eisiger Gegenwind ins Gesicht, denn die zeitlichen Wirren spitzen sich rasant zu – bis zum unausweichlichen Orkan.
1. Gottesdämmerung
Heiko sitzt in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und liest mit ernstem Gesichtsausdruck den Courier, das Lokalblatt Oldenmoors. Auf der ersten Seite dominiert die Überschrift in großen Lettern:
Deutschland ist wieder gesund! Der Führer schafft klare Verhältnisse.
Darunter ein Bericht über die Sitzung des Deutschen Reichstages anlässlich des Parteitages der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei. Es folgt eine Zusammenfassung der in Nürnberg am Vortage verkündeten neuen Gesetze: das „Reichsbürgergesetz“ sowie das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“.
Mit jeder gelesenen Zeile steigert sich Heikos Betroffenheit. Sein besorgter Blick wendet sich von der Zeitung ab und fixiert das sich von Wand zu Wand erstreckende Bücherregal, vollgestopft mit zahlreichen antiquarischen und modernen Büchern, die in Leder, Leinen und Karton eingebunden sind.
Ein kalter Schauer fährt Heiko den Rücken hinab. Er ist dreiundzwanzig, ein maskuliner Typ, groß und schlank gewachsen und in den vergangenen Jahren vom rebellischen Jüngling zu einem gestandenen jungen Mann herangereift. Nicht wissend, ob er wegen des soeben Gelesenen oder der Kälte seines Arbeitszimmers fröstelt, erhebt er sich, geht an die Tür und öffnet sie.
„Silke!“, ruft er mit heiserer Stimme hinunter.
Unten sind Schritte zu hören, danach das Öffnen einer Tür. „Jawohl, Herr Keller?“
„Seien Sie so gut, bringen Sie den Kohleneimer und machen Sie den Ofen in meinem Zimmer an. Es ist ziemlich kalt hier oben.“
„Komme sofort!“ Die Tür schließt sich wieder.
Heiko geht zurück an den Schreibtisch und setzt sich in den Drehsessel. Verloren in ernsten Gedanken, spielen seine Hände unbewusst mit dem Totenschädel (eine von Harald Suhls Hinterlassenschaften), den er mit seiner Rechten vom Schreibtisch gegriffen hat. Die Finger der linken Hand gleiten auf der elfenbeinfarbenen Schädeldecke langsam hin und her.
Als „Onkel“ Harald Suhl vor einigen Jahren starb und ihm sein gesamtes Vermögen vererbte, zog Heiko von seinem Kellerzimmer im Herrenhaus der von Steinbergs in dieses Haus um. Während inzwischen in den anderen Wohnräumen des Hauses zahlreiche Umbauten durchgeführt wurden, blieb dieses Zimmer unberührt. Mit Ausnahme der neuen Tapeten befand es sich noch im selben Zustand wie beim Ableben des kauzigen Alten. Heiko liebte dieses Arbeitszimmer, da es mit zahlreichen Erinnerungen an seine Kindheit verbunden war.
Onkel Suhl, ein langjähriger Freund der Familie und unerwidert gebliebener Jugendliebhaber von Heikos Großmutter Alexandra, war sozusagen „Oldenmoors Institution des Wissens“ gewesen. Trotz seines exzentrischen Verhaltens und seiner für seine Gesprächspartner oft unverständlichen Ausdrucksweise hielt man ihn für eine Kapazität. In der Tat war er sehr belesen und hinterließ eine ansehnliche Bibliothek. Heiko hatte einige Mühe, seine eigenen, ebenfalls zahlreichen Bücher in dem bereits ziemlich vollen Bücherregal unterzubringen.
An der gegenüberliegenden Wand hängt ein in dezenten Pastelltönen gemaltes Bild: ein sehr hübsches, etwa sechzehn Jahre altes Mädchen mit himmelblauen Augen, langlockigem, kastanienbraunem Haar und wohlgeformten Lippen, das den Betrachter mit einem leicht angedeuteten Lächeln ansieht. Unter dem Signum „Heiko Keller“ und der Jahreszahl 1930 am unteren Bildrand steht in kleinerer Schrift: „Bildnis der Prinzessin von der madigen Erbse, die in einem verzauberten Schloss an der alten Esche gefangen gehalten wurde“.
Heiko hört Schritte auf der Treppe. Die Tür öffnet sich und eine robuste, etwa siebzehnjährige stämmige Deern mit blauen Augen und langen, blonden Zöpfen betritt freundlich lächelnd das Zimmer. Sie trägt den Kohleneimer in der einen und einige alte Zeitungen in der anderen Hand.
„Ich mache Ihnen sofort das Feuer an, Herr Keller“, sagt sie eifrig und geht vor dem kleinen Kachelofen in die Knie.
Durch das Eintreten des Hausmädchens aus seinen tiefen Gedanken herausgeholt, nickt Heiko stumm. Beklommen blickt er auf den Totenschädel in seiner Hand und deponiert diesen schließlich auf dem Zeitungsartikel über das Blutschutzgesetz. Er steht auf und geht langsam im Zimmer umher. Plötzlich bleibt er vor dem Bücherregal stehen, greift nach einem Band und blättert suchend darin. Nachdem er die gewünschte Stelle gefunden hat, liest er ein paar Seiten, schüttelt den Kopf und schiebt das Buch in seine Lücke zurück.
Sein Blick bleibt an einem Wandkalender haften, der anzeigt, dass heute der 16. September 1935 ist.
„Die gnädige Frau ... lässt Ihnen ausrichten, dass ... es bald Abendbrot ... geben wird“, sagt Silke, wobei sie ihren Satz mehrmals zum Tief-Luft-Holen und In-das-Feuer-Blasen unterbricht. In der Feuerstelle des Kachelofens lecken bereits einige rötliche Flammenzungen gierig an den fetten, schwarzen Kohlen.
„Danke, Silke. Haben die Kinder schon gegessen?“
„Sie waren gerade dabei, als ich hochgekommen bin.“
„Gut, dann gehe ich schon mal runter.“
Heiko steigt die Treppe hinab und schleicht auf Zehenspitzen durch die Diele bis hin zur Küche. Leise öffnet er die Tür, bleibt im Türrahmen stehen und betrachtet mit einem stummen Lächeln das lebendige Bild, das sich vor ihm auftut. Am Küchentisch sitzt eine auffallend hübsche, junge Frau, die eine große Ähnlichkeit mit dem Portrait in seinem Arbeitszimmer hat. Aus der damals mädchenhaften Clarissa ist inzwischen eine besonders aparte Erscheinung geworden. Mit fürsorglichem Mutterblick wacht sie über das Abendessen ihrer beiden Kinder. Ein etwa zweijähriger, strohblonder Bube sitzt auf einem Kinderstuhl und rührt eifrig mit dem Löffel in seinem Schüsselchen herum, wobei der Brei darin überzuschwappen droht. Währenddessen gibt Clarissa dem Baby auf ihrem Schoß die Milchflasche.
„Oliver! Hör bitte auf, in deinem Brei herumzustochern. Mit dem Essen darf man nicht spielen.“ Clarissa spricht ihren Verweis in einer ruhigen, versöhnlichen Stimme aus.
Oliver hebt seinen Blick von der Schüssel und sieht Heiko in der Tür stehen. Seine blauen Äugelein strahlen vor Freude und er fuchtelt wild mit dem Löffel in der Luft herum, während er gleichzeitig in seiner Kleinkindersprache in hohen Tönen quiekt.
Verwundert blickt sich Clarissa um. Mit einem warmen Lächeln begrüßt sie ihren Mann, der auf das Trio zueilt und jeden von ihnen zärtlich umarmt und küsst. Heiko nimmt Oliver den Löffel aus der Hand und füttert ihn geduldig, bis er seinen Brei aufgegessen hat.
Unterdessen berichten sich die jungen Eltern gegenseitig von ihrem Tagesablauf. Während er Clarissa zuhört, denkt Heiko, dass sie sich seit jenem Frühlingsabend vor vier Jahren, an dem ihr endlich ihre Liebe zu ihm bewusst wurde, äußerlich kaum verändert habe. Sicherlich, sie ist inzwischen reifer geworden, aber die zweimalige Mutterschaft hat weder ihrem Gesicht noch ihrer Figur nachteilige Veränderungen zugefügt. Sie ist noch genau so erfrischendnaiv-aufrichtig-bildhübsch wie damals, gesteht sich Heiko mit Bewunderung ein.
„Ich war heute mit den Kindern zu Besuch im Herrenhaus“, erzählt Clarissa. „Der Papa und die Mama haben sich sehr gefreut. Tante Therese kam später auch noch dazu. Sie alle lassen dich grüßen.“
„Danke für die Grüße. Ich habe euch aus dem Fenster meines Arbeitszimmers gesehen. Der beeindruckende Konvoi zweier Kinderwagen unter Führung eines bezaubernden Kommodores entging nicht meiner Aufmerksamkeit.“