Manfred Eisner

Crescendo bis Fortissimo


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Teil des von Onkel Suhl geerbten Geldes eine fällige Hypothek ab und konnte somit seinen zu der Zeit noch zukünftigen Schwiegereltern – gleichzeitig Großonkel und Großtante – ihr Heim erhalten.

      Clarissa nimmt das Kompliment ihres Mannes mit einem Lächeln an. Während sie das Baby halb über ihre Schulter hält, klopft sie rhythmisch und zart auf dessen Rücken. Elisabeths wiederholtes, lautes Aufstoßen bestätigt der Mutter die Wirksamkeit dieser Methode, die ihr Sanitätsrat Dr. Schmitthofer zur Entfernung der lästigen Luft aus dem Babybäuchlein empfohlen hat. „Und wie war dein Arbeitstag, mein Liebling?“

      „Nichts Ungewöhnliches, alles Routine. – Hast du heute schon die Zeitung gelesen?“

      „Ja, aber nur oberflächlich. Ich ...“ Abrupt unterbricht Clarissa den angefangenen Satz, als Silke in der Tür erscheint. Sie steht auf und hebt spielerisch ihr Baby in die Luft. „... bringe jetzt die Kinder ins Badezimmer und danach geht’s ab in die Heia! Silke, bringen Sie bitte Oliver mit?“ Im Vorbeigehen küsst Clarissa ihren Mann rasch auf den Mund und ist danach auch schon aus der Küche verschwunden. Silke folgt ihr mit Oliver auf dem Arm. Der Bub protestiert laut und wirbelt mit seinen Ärmchen wild in der Luft herum.

      Nach einem kurzen Augenblick erlischt Heikos Lächeln, das sich durch Clarissas überraschende Liebkosung auf seine Lippen geschlichen hatte. Seufzend setzt er sich wieder an den Küchentisch und rührt gedankenverloren mit dem Kinderlöffel in Olivers leerer Breischüssel. So weit sind wir also schon gekommen, gesteht er sich verbittert ein. Man kann seine Gedanken nicht einmal mehr im eigenen Heim offen zum Ausdruck bringen. Jeder hat – ja, jeder muss vor jedem Angst haben. Man redet zwar nicht offen darüber, aber man weiß, was mit jenen passiert ist, die es gewagt hatten, das zu sagen, was sie dachten. Sie verschwanden plötzlich und man hat die meisten von ihnen nicht wieder gesehen. Und die wenigen, die zurückgekommen sind, schweigen sich aus.

      * * *

      Heiko und Clarissa sitzen im Esszimmer. Silke hat soeben den Tisch abgeräumt und verlässt, vollbeladen mit Tellern und Besteck, den Raum. Während des Abendessens ist keine richtige Unterhaltung zwischen den beiden zustande gekommen, sie haben die meiste Zeit nur schweigend gegessen.

      Besorgt sieht Clarissa ihren Ehemann an. „Was hast du, Heiko? Du siehst so bedrückt aus. Ist etwas passiert?“

      Heiko blickt vielsagend in Richtung Tür. „Jetzt nicht – später!“ Er nimmt sich zusammen und versucht, seine Frau mit einem Lächeln zu beruhigen. Er greift nach ihrer Hand, und nachdem Clarissa ihm diese überlassen hat, streichelt er sie liebevoll, versinkt aber schon nach einigen Sekunden abermals in seinen Gedanken.

      „Möchtest du noch etwas, Heiko?“

      „Nein, Prinzessin, vielen Dank. Wollen wir nicht hinübergehen?“

      In ihrer Kindheit spielten sie mit ihren Spielkameraden oft „Entführung der Prinzessin“. Heiko, Anführer der Bande und damals ein ziemlich rüder und eigensinniger Einzelgänger, verlieh Clarissa den wenig schmeichelhaften Namen „Prinzessin der madigen Erbse“, worüber sie verständlicherweise sehr enttäuscht war, hatte sie sich doch einen viel wohlklingenderen Namen erhofft. Noch in den Jahren danach sprach Heiko Clarissa immer dann mit „Prinzessin“ an, wenn er sie bewusst ärgern wollte. Nach ihrer Verlobung und der Hochzeit wurde daraus jedoch ein Kosename.

      Beide stehen auf und gehen Hand in Hand ins Wohnzimmer, in dem ein loderndes Kaminfeuer dazu einlädt, sich gemütlich niederzulassen. Der geräumige Salon ist mit dunkel gebeizten Möbeln im neuen Renaissancestil ausgestattet. Vor dem Kamin stehen rund um einen passenden Sofatisch ein bequemes Sofa und drei große Sessel mit gewaltigen Löwentatzen als Füße. Genüsslich lässt sich Clarissa auf dem Sofa nieder und zieht ihren Mann an ihre Seite. Heiko legt seinen Arm um ihre Schulter und sie schmiegt sich an ihn.

      Als Heiko in das hellbraun getünchte Haus mit dem markanten Balkon umgezogen war, plante und verwirklichte er sehr sorgfältig und weitsichtig dessen Umbau. Boie Sötje, ein ehemaliger Schulfreund vom Gymnasium und Sohn des Inhabers des größten Baugeschäftes in Oldenmoor, stand damals kurz vor der Beendigung seines Architekturstudiums und unterstützte ihn mit Rat und Tat. Die Bauarbeiten führte die Firma Sötje aus.

      Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Aus dem alten und ziemlich heruntergekommenen Gebäude, das Onkel Suhl in seinem Einsiedlerleben sehr vernachlässigte, ist ein wohnliches, einladendes und komodiges Heim geworden, mit allen Raffinessen, welche die moderne Technik zu bieten hat: Spülklosett, Badezimmer, fließend kaltes und warmes Wasser – ja sogar ein elektrischer Herd mit Backröhre und ein Kühlschrank schmücken die Küche. Auch ein Fernsprecher ist nunmehr im Haus vorhanden. Das obere Geschoss, das vormals mit Ausnahme von Onkel Suhls Arbeitszimmer ungenutzt war, wurde ausgebaut. Neben den beiden Kinderzimmern befinden sich dort jetzt ein Gästezimmer, ein Zimmer für das Hausmädchen und ein kleines Badezimmer mit Dusche und Spülklosett.

      Heikos größte Freude an dem gelungenen Umbau ist die Tatsache, dass man dem Haus von außen nichts von den inneren Veränderungen ansieht. Das kunstvoll aus Eisen geschmiedete, grün lackierte Geländer des Balkons mit seinen wohlgeformten, weißen Schwänen thront an der Fassade und gibt dem Haus sein ganz besonderes Gepräge.

      Obwohl schon vier Jahre seit Heikos Einzug vergangen sind, wird dieses Haus in Oldenmoor immer noch „Harald Suhls Hus“ genannt. Darüber freut sich Heiko ganz besonders, weil die Menschen auf diese Weise seinem Gönner, dem lieben alten Spaßvogel, der so viele Oldenmoorer Bürger (natürlich ohne deren Wissen) mit seinen Pseudoweisheiten hinters Licht führte, so etwas wie ein Denkmal gesetzt haben.

      Alle diese und noch viele andere Erinnerungen wandern gerade durch Heikos Gedanken.

      „Was bedrückt dich, Deichkater?“, flüstert Clarissa in Heikos Ohr. „Du machst mir ernsthafte Sorgen.“ Jedes Mal, wenn sie Heiko mit seinem Spitznamen anspricht, muss sie unwillkürlich an den rebellischen Spielgefährten ihrer Kindheit denken, der diesen Namen wegen seines zeitweisen Untertauchens in einer aus Weiden selbst gebastelten Hütte am Elbdeich trägt.

      „Ach, mein Schatz, es ist die augenblickliche Lage, die mir so sehr an die Nieren geht.“ Auch Heiko spricht ganz leise. „Wir rasen immer schneller dem Abgrund entgegen und es sieht so aus, als ob es niemand merkt. Und von denjenigen, die es zumindest ahnen, will es sich keiner eingestehen. Alle schreien vor Begeisterung Hurra und ich vermute, das Denken dieser Menschen ist wohl ausgerastet. Was ich da heute wieder gelesen habe ...“

      „Ja, ich weiß. Und auch, wie du darüber denkst, wir haben uns ja schon öfter über dieses Thema unterhalten. Ich finde es ebenfalls sehr schlimm und all diese armen Menschen tun mir furchtbar leid. Aber unserer Familie droht doch keine Gefahr, oder?“

      „Doch, Clarissa, aber ja!“

      Clarissa legt ihre Hand vor Heikos Mund, weil sein Ausruf heftig und laut war. Er hält einen Moment inne und küsst ihre Finger. Clarissa lächelt und nickt ihm zu – eine stumme Aufforderung, seine Behauptung zu erläutern.

      Heiko fährt in leisem, jedoch markantem Ton fort: „Begreifst du denn nicht, dass es hier um die elementarsten Menschenrechte geht? Ist dir nicht bewusst, dass das, was hier heute geschieht, ein gellend schreiendes Unrecht gegen alle Völker der Erde ist, für das wir Deutschen eines Tages, ob wir es gewollt haben oder nicht, ob wir aktiv mitgemacht oder es nur tatenlos geduldet haben, vor der Welt Rechenschaft werden ablegen müssen?“

      „Ich fühle genau wie du, Heiko. Auch ich empfinde ein großes Unbehagen. Was ist nur in all diese Menschen gefahren? Nicht mal mehr ein freundliches ‚Guten Morgen‘ oder ein lächelndes ‚Guten Tag‘ beim Treffen mit Freunden und Bekannten ist noch drin. Nein! Bis heute kriege ich dieses primitive ‚Heil Hitler!‘ nicht über meine Lippen.“

      „Wenn es nur das wäre!“, seufzt Heiko. „Das Ganze geht noch weiter, es kommt noch viel schlimmer. Jeder Deutsche muss jetzt den Beweis erbringen, dass er Arier ist! Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über diesen Humbug schallend lachen!“

      „Na, wenn uns nichts Schlimmeres passiert!“, witzelt Clarissa und versucht Heiko auf diese Weise aufzumuntern. Das Lächeln, das Heiko darauf erwidert,