Manfred Eisner

Crescendo bis Fortissimo


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Adern rein arisches Blut fließt! Außerdem ist all dies einfach zu belegen. Aber wie sieht es für mich, den Heiko Keller, aus?“

      Pause.

      Mit ernstem Blick sieht Clarissa ihren Mann an. Auch Heikos Mutter war eine von Steinberg, eine Cousine des Papas. Trotz des Widerstands der Familie heiratete Elisabeth aus Liebe den Kunstmaler Oskar Keller, über den man nichts Genaues wusste – weder über seine Herkunft noch über seinen späteren Verbleib, hatte er doch Frau und Kind kurz nach Heikos Geburt genauso unauffällig verlassen, wie er einst auf der Bildfläche erschienen war. Elisabeth konnte diesen Kummer nicht bewältigen und nahm sich kurz darauf das Leben. Heiko wurde daraufhin von seiner Großmama, Tante Alexandra, aufgezogen.

      „Ich verstehe, Deichkater. Du sorgst dich, weil du glaubst, dass es schwierig sein könnte, die Herkunft deines Vaters zu erforschen.“

      „Ja, oder besser gesagt: nein! Es ist ekelhaft, so etwas überhaupt tun zu müssen, verstehst du? Wäre ich denn ein anderer, ein schlechterer Mensch, wenn sich herausstellen sollte, dass mein Vater kein reiner Arier gewesen ist?“

      „Natürlich nicht ...“ Clarissa hält inne, als Silke mit dem Teeservice hereinkommt.

      „Ist die gnädige Frau damit einverstanden, wenn ich schon jetzt den Tee serviere? Weil ich doch heute noch ausgehen müsste, das heißt, wenn Sie nichts dagegen hätten.“

      „Ist schon gut, Silke, servieren Sie jetzt den Tee und danach können Sie sich gern den Rest des Abends freinehmen.“ Clarissa hilft ihr beim Verteilen des Geschirrs.

      „Danke, gnädige Frau.“

      „Wo soll’s denn hingehen, Silke?“, fragt Heiko, während sie seine Tasse mit dem bernsteinfarbenen Aufguss füllt.

      „Zum Heimabend beim BDM.“

      „Ach so, natürlich, da dürfen Sie keineswegs fehlen!“, entfährt es Heiko wie aus einer Pistole geschossen. Häme schwingt in seiner Stimme mit. Bund Deutscher Mädchen! Diese dämonischen Verführer machen auch vor der noch unschuldigen Jugend keinen Halt.

      Nachdem Clarissa zunächst Heiko einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen hat, sieht sie besorgt auf Silkes Gesicht, um zu erspähen, wie das Hausmädchen seine unvorsichtige Bemerkung aufgenommen haben könnte. Silkes klarer, aufrichtiger Blick jedoch beruhigt sie.

      „Na ja, dann wünsche ich ’ne gute Nacht. Heil Hitler!“, sagt das Mädchen, während es das Wohnzimmer verlässt.

      „Gute Nacht, Silke.“

      Das Ehepaar bleibt in der Stille sitzen, bis ein Geräusch verrät, dass gerade die Haustür ins Schloss fällt. Endlich sind sie allein.

      „Heiko, du darfst nicht ...“

      „Ich weiß, Clarissa, du hast recht, aber manchmal überfährt es mich und ich kann einfach nicht an mich halten!“

      „Mein lieber Herr Gemahl, du wirst lernen müssen, dich zu beherrschen, oder du bringst dich und deine Familie in größte Gefahr. Denk doch an die Kinder!“

      „Natürlich hast du recht, Prinzessin! Es bleibt mir leider keine andere Wahl, als mich zukünftig im Kuschen und Duckmäusern zu üben. Denn trotz meiner Überzeugung und meiner Verachtung für diese germanischen Götter des Unheils kannst du mir das eine glauben: Überleben will ich – koste es, was es wolle! Und dass ich jegliches Unheil von meiner geliebten Familie fernhalten möchte und werde, brauche ich dir wohl nicht zu versichern, oder?“ Zärtlich nimmt Heiko seine Clarissa in die Arme und küsst sie liebevoll auf Augen, Nasenspitze und Mund.

       2. Rückblende

      Clarissa betritt den kleineren Raum im Erdgeschoss – ihr eigenes Zimmer und Privatsphäre in diesem Hause. An den Wänden hängen die Bilder, die sie am meisten liebt. Bis auf eines sind sie alle von Heiko gemalt worden, lange bevor sie sich in ihn verliebt hat. Ein Bildnis zeigt Onkel Suhl, genauso portraitiert, wie ihn ihre Erinnerung festhält: ein verschmitztes Lächeln mit ironischem Blick, schneeweißes Haar, ein spitzes Bärtchen.

      An der Wand gegenüber ein kleineres Bild mit schwarzem Rahmen. Es zeigt einen schönen, rötlichen Vogel, der in den blauen Himmel fliegt. Unten, auf der Erde, sitzt ein kleiner Junge im Schatten eines Baumes und beobachtet den Flug des Vogels. Am unteren Bildrand steht in schwarzer Schrift: „Neid“. Es war damals Heikos größte Sehnsucht, in die weite, weite Welt hinauszuziehen. Jedes Mal, wenn Clarissa dieses Bild betrachtet, muss sie vergnügt an jenen Tag denken, an dem der Deichkater ihr erklärt hat, dass ihn nur ein ganz bestimmtes Ereignis von diesem Entschluss abbringen könne. Ach, wie war sie doch damals noch naiv, nicht gleich zu verstehen, was er damit ausdrücken wollte!

      Eine Miniatur, die in einem verkupferten Rahmen hängt, ist das einzige Andenken, das Heiko von seinem Vater besitzt: Clarissas heißgeliebte Sommerwiese vor ihrem Elternhaus, voller bunter Blumen, die von einer strahlenden Sonne am tiefblauen Himmel beschienen werden. Es heißt, dass Heikos Vater und Mutter sich kennenlernten, während dieses Bild entstand.

      Nach ihrer Hochzeit mit Heiko zog Clarissa hierher. Kurz darauf schlug ihr Mann vor, ihr diesen Raum als Arbeitszimmer einzurichten. Damals war sie noch Lehrerin in der Schule in Oldenmoor und benötigte einen eigenen Platz, um ihren Unterricht vorzubereiten. Clarissa nahm beim Umzug außer dem Bett sämtliche Möbel aus ihrem Mädchenzimmer mit. Sie hing vor allem an ihrem kleinen Schreibtisch und genoss es, sich in ihr Reich zurückzuziehen, um in Ruhe zu schreiben oder zu lesen.

      Als Sohn Oliver geboren wurde, gab Clarissa das Lehramt auf. Neben der liebenden Ehefrau entwickelte sie sich zu einer fürsorglichen Mutter und sehr gewissenhaften Hausfrau. Minutiös wurden sämtliche Ausgaben für den Haushalt in ihrem Rechnungsbuch festgehalten. Obwohl Clarissa, anders als vormals ihre Frau Mama, nach ihrer Heirat keineswegs dazu genötigt war, jeden Pfennig mehrmals umzudrehen, hatte sich die durch mancherlei widrige Umstände erzwungene Sparsamkeit der Frau Annette von Steinberg als eine Selbstverständlichkeit auf ihre Tochter übertragen.

      Clarissa pflegte nach wie vor eine Gewohnheit, die sie schon in ihrer Jugendzeit lieb gewonnen hatte: Mit steter Regelmäßigkeit hielt sie mit ihrer schönen und ausgeprägten Handschrift wichtige Ereignisse in einem Tagebuch fest. Seit jenem unvergesslichen Tage vor vier Jahren, an dem sie, eilig dem Ruf ihrer Mutter folgend, unvorsichtigerweise das offene Tagebuch auf dem Schreibtisch liegen gelassen und damit Heiko Einsicht in ihre intimsten Empfindungen ermöglicht hatte, ging sie damit besonders sorgfältig um und hielt behutsam diesen Spiegel ihres Inneren stets unter Verschluss. Zudem blieb die Sammlung ihrer Tagebücher, bereits fünf an der Zahl, in einem geheimen Fach ihres Schreibtisches versteckt. Der französische Tischler, der vor mehr als hundertfünfzig Jahren dieses besondere Möbelstück konzipiert und gebaut hatte, musste ein wahrer Meister seines Metiers gewesen sein. Es war dem Tisch von keiner Seite her anzusehen, dass dieser ein verborgenes Fach enthielt.

      Jedes Mal, wenn Clarissa nach einer Eintragung ihr Tagebuch verschloss und es in seinem Versteck wieder in Sicherheit brachte, erinnerte sie sich mit Freude an Heikos freche Neugier, hatte doch diese eine entscheidende Wende in ihrer gegenseitigen Beziehung ausgelöst: Die anfängliche tiefe Abneigung, die sie seit ihren Kinderjahren füreinander empfunden hatten, begann nach einer ersten Aussprache zu schwinden. Allmählich näherten sie sich einander an, bis schließlich Liebe daraus wurde.

      Durch Betätigung eines in der mittleren Schublade verborgenen Hebels öffnet Clarissa das Geheimversteck im Schreibtisch und entnimmt daraus eines ihrer früheren Tagebücher. Sie setzt sich und beginnt in der Vergangenheit zu blättern.

       Ich kann es immer noch nicht fassen! Wie kann eine junge Frau in meinem Alter (man kann doch von einer Lehrerin wirklich nicht mehr als „Mädchen“ sprechen!) noch so unbedarft und naiv sein! Ich habe lang, allzu lang, dazu gebraucht, um mir einzugestehen, dass ich in Heiko verliebt bin. Eigentlich, liebes Tagebuch, habe ich dies schon seit längerer Zeit geahnt. Ich konnte es Dir aber nicht einfach so anvertrauen, dazu fehlte mir der Mut. Ich hoffe, Du kannst es verstehen und nimmst mir diesen Mangel an Ehrlichkeit nicht allzu übel. Aber jetzt will ich alles