Manfred Eisner

Crescendo bis Fortissimo


Скачать книгу

Struwe schluckt abermals. Gute Frage. Wie gut kannte er Clarissa von Steinberg wirklich? Er war in dieses bildhübsche junge Mädchen sehr verliebt gewesen. Er hatte Clarissa den Hof gemacht, hatte mit allen Mitteln versucht, ihr seine Liebe zu erklären. Aber nie war er so richtig an sie herangekommen. Immer wieder war in ihm das Gefühl aufgekommen, dass sie ihn nicht für voll nahm und sich sogar über ihn lustig machte. Sicher, sie hatten bei den Tanzvergnügen im Colosseum öfter miteinander getanzt und sich angeregt unterhalten. Einmal, daran kann er sich noch genau erinnern, hatte er bei einer dieser Gelegenheiten sogar das sichere Gefühl verspürt, dass er nun endlich fast am Ziel seiner Wünsche angelangt sei. Und kurz darauf, als er erfuhr, dass Clarissa und ihr ungehobelter Vetter sich verlobt hatten, traf ihn diese Nachricht, als ob man ihm mit einem riesigen Holzprügel auf den Schädel geschlagen hätte. Wie konnte sich nur seine edle Clarissa in diesen wilden und unkultivierten Mann verliebt haben? Wie war es möglich, dass sie diesem Nichts von Heiko ihm, dem Amtsrichter von Oldenmoor, vorgezogen hatte? Ihre Entscheidung war ihm völlig unerklärlich. Er hatte sogar versucht, sich mit ihr zu treffen, um eine Begründung für ihr Verhalten zu erbitten. Einmal hatte er sie am Markt gesehen, als sie im Begriff war, das Café Petersen zu betreten. Er folgte ihr, schlich sich aber eilends davon, als er sah, dass sie sich an den Tisch zu Heiko Keller setzte. Da gab er endlich auf. Er wurde sogar krank und ließ sich für einige Wochen vom Dienst beurlauben. Er hatte diesen Verlust und die Verletzung seiner Gefühle bis zum heutigen Tage nicht überwinden können. So manches Mal befielen ihn wilde Träume, in denen er seinen Nebenbuhler im wütenden Kampf besiegte und die untreue Geliebte aus seinen Fängen befreite.

      Die kalte Stimme des Ortsgruppenleiters holt Dr. Struwe in die Gegenwart zurück: „Ich hatte Sie gefragt, wie gut Sie diese Dame kannten!“

      „Nun ja ... Ich habe ihr vor einigen Jahren den Hof gemacht und sie gelegentlich getroffen. Wir tanzten, unterhielten uns ... Eben wie das so ist, wenn man einer jungen Dame den Hof macht.“

      „Aber, um es klar und deutlich zu sagen, sie hat Ihnen einen Korb gegeben und diesen Keller, Heiko Keller, geheiratet, nicht wahr?“

      Durch die brutale Offenbarung dieser Wahrheit gedemütigt, blickt Dr. Struwe betroffen auf den großen Tintenfleck auf seiner Schreibunterlage. Er bleibt stumm und nickt.

      „Dieser Keller ist doch ein Vetter von ihr, oder?“

      „Tja, ein Großvetter. Soweit ich mich erinnere, war seine Mutter eine Cousine von Clarissas Vater, Hans-Peter von Steinberg.“

      „Und Kellers Vater? Wissen Sie irgendetwas über dessen Vater?“

      „Ich habe einmal munkeln gehört, dass er ein Bohemien war, so ein dahergelaufener Kunstmaler. Ich glaube kaum, dass es bekannt sein dürfte, woher er kam. Er hat damals jenes Fräulein von Aulendorf gegen den Willen der Familie geheiratet.“

      „Elisabeth, wenn ich richtig informiert bin?“

      „Ihr Name war mir nicht geläufig, sie kann durchaus Elisabeth geheißen haben. Nun gut, er heiratete sie und nach einiger Zeit zogen sie fort aus Oldenmoor, ich glaube nach Kiel. Später erzählte man sich, dass Frau Kellers Mutter sie und ihren Sohn zurück nach Oldenmoor holte, als der Maler seine Familie verlassen hatte. Nach einigen Jahren nahm sich ... ach ja, Elisabeth ... Elisabeth nahm sich das Leben. Der Junge wuchs bei den von Steinbergs auf.“

      „Ja, ja, so ähnlich habe ich diese Geschichte auch schon gehört. Aber mich interessiert vor allem der Vater dieses Heiko Keller. Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?“

      Dr. Struwe denkt angestrengt nach. „Nein. Aber man könnte ja mal in seinen Heiratsakten nachsehen, woher er stammt, vielleicht würde das helfen.“

      „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, das ist keine schlechte Idee.“

      „Darf ich fragen, warum Sie sich so sehr für diesen Mann interessieren?“

      „Also gut. Ich hatte Ihnen ja versprochen, diese Angelegenheit zu erläutern. Sie kennen doch die Großbäckerei dieses widerlichen Polacken Rembowski. Heiko Keller ist dort anscheinend leitender Angestellter oder sogar Geschäftsführer.“

      Dr. Struwe stimmt nickend zu.

      „Die neuen Gesetze, die der Führer zum Schutze des deutschen Volkes erlassen hat, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern. Sie sind sicher mit mir einer Meinung, dass demzufolge ein für Oldenmoor so wichtiges Unternehmen wie diese Bäckerei unmittelbar in reine, deutsche Hände zu überführen ist und nicht weiter von einem dieser Untermenschen geführt werden darf. Da die Bäckerei andererseits voll funktionsfähig gehalten werden muss – das Stopfen vieler Münder hängt davon ab –, dachte ich daran, das Ganze in die Hände dieses Heiko Keller zu legen, der ein recht tüchtiges Bürschlein zu sein scheint. Jedoch ...“

      Dr. Struwe fühlt in seinem Inneren das Aufkommen einer heimlichen Schadenfreude. „Ach so, Herr Ortsgruppenleiter, ich glaube zu verstehen. Sie hegen ernsthafte Zweifel an der rein arischen Herkunft dieses Heiko Keller?“

      „Wohl, wohl, lieber Struwe. Auch das. Außerdem fällt unangenehm auf, dass er bisher nicht in die Partei eingetreten ist, obwohl ich ihn persönlich mehrmals dazu aufgefordert habe. Eine derart wichtige Funktion könnte selbstverständlich nur einer vollends vertrauenswürdigen Person übertragen werden.“

      „Gut, Herr Ortsgruppenleiter. Ich werde meine Nachforschungen anstellen und Ihnen alsbald berichten.“

      Nach erneutem Austausch der üblichen Grußformeln trennen sich die beiden Männer.

      Als der Besucher fort ist, eilt Dr. Willibald Struwe mit beschwingtem Gang an ein Wandschränkchen und entnimmt ihm einen größeren Schlüssel. Mit diesem in der Hand geht er hämisch grinsend in Richtung Aktenkeller.

      * * *

      Silke kniet vor dem großen Regal in Heikos Arbeitszimmer und staubt die zahlreichen Bücher ab. Sie entnimmt jeweils einen Band und stellt ihn nach der Reinigung sorgfältig an seinen Platz zurück, bevor sie den nächsten reinigt. Ab und zu öffnet sie das eine oder andere Buch, blättert darin und legt es kopfschüttelnd zurück. Die verschiedenen Werke Tucholskys, Erich Mühsams, Remarques, Kellermanns und vor allem „Das Kapital“ von Karl Marx entgehen neben den zahlreichen Büchern in verschiedenen Fremdsprachen nicht ihrer Aufmerksamkeit.

      Als das Hausmädchen seine Arbeit nach eineinhalb Stunden beendet hat, bleibt es für einige Augenblicke unentschlossen vor dem Regal stehen. Es geht an den Schreibtisch, entnimmt ein Blatt Papier aus einer Schreibmappe und einen Bleistift aus einem runden Topf. Danach geht Silke an das Regal zurück und beginnt jene Bücher aufzulisten, die ihr besonders aufgefallen sind.

      Sie ist derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht bemerkt, wie sich hinter ihr die Tür öffnet und Clarissa im Türrahmen erscheint. Clarissa verharrt wie versteinert, als sie diese Szene wahrnimmt. Nach einigen Sekunden schließt sie sehr behutsam und leise die Tür. Sie ist unbemerkt geblieben.

      Nachdem Silke die Auflistung vervollständigt hat, faltet sie das beschriebene Blatt Papier sorgfältig zusammen und versteckt es unter dem Kittel in ihrer Bluse. Sie legt den Bleistift an seinen Platz zurück und verlässt eilig das Arbeitszimmer.

      * * *

      „Ich mache mir große Sorgen, Annette.“

      Während er diese Worte zu seiner Frau spricht, geht Hans-Peter von Steinberg im Esszimmer des Herrenhauses unruhig auf und ab, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Der gut gekleidete, grau melierte Mittfünfziger mit den buschigen Augenbrauen macht ein sorgenvolles Gesicht.

      „Weshalb, Hans-Peter? Was hast du?“

      „Man hat heute in aller Herrgottsfrühe Friedrich Winkler, den Redakteur des Couriers, verhaftet.“

      „Wieso, Hans-Peter, was hat er denn verbrochen?“

      „Man weiß nichts Genaues. Alles nur Mutmaßungen. Ich habe es heute Vormittag von Detlef Bartels, dem Referendar in der Anwaltskanzlei von Dr. Looft, erfahren. Winklers Frau rief gegen neun Uhr sehr aufgeregt in der Kanzlei an. Zwei Männer der Geheimen Staatspolizei seien extra