des benachbarten Holstenhofes, dazu überreden, in die SA einzutreten. Dies hatte eine merkliche Abkühlung der Freundschaft zu Heiko und Clarissa zur Folge, sodass man sich danach aus dem Wege ging. Siegfried engagierte sich zunehmend in der SA und nahm oft an deren Versammlungen teil sowie an den kämpferischen Einsätzen und Auseinandersetzung vor allem mit KPD- und SPD-Anhängern. So geschah es, dass Siegfried bei einem Anschlag auf ein Versammlungslokal der KPD in Brunsbüttel im September 1932 durch das unvorsichtige Hantieren eines seiner SA-Kameraden mit Sprengstoff ums Leben kam.
Gesche war damals im vierten Monat schwanger und der grausame Tod ihres Mannes verursachte eine schwerwiegende Fehlgeburt, an deren Folgen sie beinahe selbst gestorben wäre. Sie erholte sich nur sehr langsam und lebt seit damals zurückgezogen auf dem Uhlenhof. Lediglich ihre Schwester, Gesine, bekommt man gelegentlich in Oldenmoor zu Gesicht.
Von der Wärme und dem Streicheln ihrer Schwester etwas beruhigt, hört Gesche auf zu weinen und trocknet ihre Tränen mit einem Taschentuch. Lächelnd nickt Gesine ihr zu. Die Zwillingsschwestern haken sich ein und gehen gemächlich durch das Friedhofsportal.
Plötzlich bleibt Gesche stehen und sagt zu Gesine: „Wwwwweißt du, an wwwwwwaaaas ich dddenke?“
„Nein, Gesche, an was denn?“
„Wwwas mmeinst du, wwwwennn wir Cl...?“
„Du meinst, wir sollten Clarissa besuchen? Meinst du wirklich? Hast du dir das auch gut überlegt?“
Gesche nickt heftig mit dem Kopf.
„Gut, wenn du es willst. Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns nach alledem mit Freude empfängt. Du weißt ja ...“
„Gggggehen wwwir gleich, ja?“ Gesche wirkt ungeduldig.
„Also einverstanden! Du magst recht haben. Es sind ja inzwischen einige Jahre vergangen!“
Mit neu gewonnener Freude machen sich die Zwillingsschwestern auf den Weg in Richtung „Onkel Suhls Haus“.
4. Lieber Besuch
Clarissa sitzt mit dem kleinen Oliver auf dem Boden und hilft ihm beim Bau einer Burg, die aus hölzernen Bauklötzen entstehen soll. Mit diebischem Lachen und lautem Freudengeschrei bringt Oliver von Zeit zu Zeit eine Wand zum Einsturz, indem er sehr geschickt einen Baustein mit dem kleinen Zeigefinger aus ihr herausdrückt.
Clarissa schüttelt dabei mit gespieltem Bedauern den Kopf, was die Belustigung und die Freudenausrufe des Buben noch steigert. Ab und zu steht Clarissa auf und geht in das Nebenzimmer, um nach der kleinen Elisabeth zu sehen, die sanft in ihrer Wiege schläft.
Das sich stets wiederholende Spiel mit ihrem Sohn vermag jedoch nicht, die ernsthaften Sorgen aus Clarissas Gedanken zu vertreiben. Ununterbrochen muss sie an das vor dem Bücherregal in Heikos Arbeitszimmer kniende Hausmädchen denken – und an die auf dem Boden liegende Bücherliste. Was hat das zu bedeuten? Werden sie bespitzelt? Weshalb? Von wem?
Wie oft hat sie Heiko schon gewarnt, er solle sich endlich dieser politischen Bücher entledigen. Wie kann man nur verhindern, dass diese Liste außer Haus gelangt? Wenn bloß Heiko rasch nach Hause kommt, denkt sie, damit wir beraten können, was nun zu tun ist!
In diesem Moment läutet die elektrische Klingel an der Haustür. Rasch erhebt sich Clarissa, sagt ihrem Sohn ein eiliges „Spiel nur weiter, Oliver, Mami kommt gleich wieder!“ und läuft geschwind die Treppe hinunter, um noch vor dem Hausmädchen an der Tür zu sein.
„Lassen Sie nur, Silke, ich gehe schon!“, ruft sie dem verwunderten Mädchen im Vorbeigehen zu, das sich, von der Waschküche kommend und seine Hände in der Schürze trocknend, gerade auf den Weg zur Haustür begeben wollte, um den Besuch hereinzulassen.
Mit großer Erleichterung erkennt Clarissa auf den matten Glasscheiben die Umrisse einer vertrauten Männergestalt. Ungeduldig öffnete sie die Haustür. „Oh, Papa!“, ruft Clarissa freudig und fällt mit Tränen in den Augen ihrem Vater in die offenen Arme. „Wie schön, dass du gerade jetzt gekommen bist!“
Äußerst überrascht von der Heftigkeit dieser Begrüßung umarmt Hans-Peter von Steinberg liebevoll seine Tochter.
„Komm doch herein, lass uns ins Wohnzimmer gehen. Trinkst du mit mir eine Tasse Tee?“ Sie hilft ihrem Vater aus dem Mantel und weist, ohne auf seine Antwort zu warten, Silke an: „Sie sind doch sicher bald fertig mit dem Waschen, Silke. Bitte bereiten Sie danach den Tee und servieren Sie ihn im Wohnzimmer.“
„Guten Tag, Herr von Steinberg. – Ich gehe sofort in die Küche, Frau Keller, und setze das Wasser für den Tee auf.“ „Guten Tag, Silke.“
Vater und Tochter gehen Arm in Arm durch die Diele in das Wohnzimmer.
„Wie geht es dir, mein Kind?“, fragt Hans-Peter mit besorgter Stimme. „Du hast doch etwas. Was ist los?“
Im Gehen nähert Clarissa ihr Gesicht dem ihres Vaters, lehnt sich an seine Schulter und flüstert ihm leise ins Ohr: „Nicht jetzt, Papa, nachher!“
Während es sich Hans-Peter in einem der großen Sessel gemütlich macht, setzt sich Clarissa auf das Sofa. Mit einem Mal spürt sie die Kälte im Raum. Sie steht auf und geht an den Kamin. „Es ist kühl hier. Ich zünde uns ein paar Holzscheite an.“ Sie entnimmt drei kleine weiße Alkoholpastillen aus einer Blechschachtel und legt sie unter das im Kamin gestapelte Holz. Von einem brennenden Streichholz springt rasch die Flamme auf die Pastillen über. Bald fängt auch das trockene Holz an zu brennen und rasch verbreitet sich wohlige Wärme im Wohnzimmer.
Um den Papa zu beruhigen, dem eine große Unruhe ins Gesicht geschrieben steht, macht Clarissa beschwichtigende Gesten, während sie die Zeit mit belangloser Konversation vertreibt.
Nachdem Silke mit dem Tablett hereingekommen ist und den Tee serviert hat, bittet Clarissa sie, nach oben zu gehen und auf die Kinder aufzupassen. Nach einigen Augenblicken schleicht sie sich vorsichtig hinaus, um sich zu vergewissern, dass die Deern tatsächlich in das obere Stockwerk gegangen ist. Als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehrt, setzt sie sich auf die Sessellehne neben ihren Papa. Sehr leise erzählt sie ihm, wie sie Silke bei der heimlichen Auflistung der Bücher beobachtet habe.
Tiefe Sorgenfalten durchziehen Hans-Peters Stirn beim Zuhören. „Ach, mein Kind, gerade deswegen wollte ich heute mit euch sprechen.“ Und er erzählt Clarissa ausführlich von dem, was an diesem Morgen Friedrich Winkler widerfahren ist, und auch von seinem darauf folgenden Gespräch mit Clarissas Mutter.
Clarissa ist entsetzt. „Papa, das ist ja schrecklich! Was sollen wir nur tun? Ich weiß einfach nicht weiter. Ich habe solche Angst um Heiko. Er ist sowieso schon sehr wütend über dieses verwünschte Reichsbürgergesetz. Wie soll er nur die Herkunft seines Vaters nachweisen? Und jetzt werden wir auch noch im eigenen Haus bespitzelt. Was soll bloß aus uns werden?“
„Nun beruhige dich erst einmal, mein Kind. Nur keine Panik. Mit Angst im Herzen kann das Gehirn nicht kühl denken.“ Aber in seinem Inneren muss sich auch Hans-Peter eingestehen, dass er vollkommen ratlos ist.
In diesem Moment klingelt es wieder an der Haustür. Clarissa blickt verdutzt auf die Standuhr. Wie auf Befehl schlägt diese halb vier. Wer kann das sein? Um diese Zeit?
Clarissa springt auf und eilt an die Haustür. Die zwei weiblichen Umrisse auf den Glasscheiben sind ihr nicht geläufig. Oder doch?
Als sich die Tür öffnet, sehen sich die drei Frauen für einen Augenblick erstaunt und zunächst wortlos an. Dann fallen sie sich in die Arme.
„Gesche und Gesine. Welche Überraschung! Wie schön, euch nach so langer Zeit wiederzusehen! Kommt herein, kommt herein, der Papa ist auch gerade da.“
Während die beiden Besucherinnen ihre Mäntel ablegen, blickt Clarissa die Treppe hoch und sieht die oben stehende Silke, die gerade die kleine Elisabeth im Arm hält.
„Silke, bringen Sie bitte die Kinder herunter und machen Sie doch für meine beiden Freundinnen noch etwas Tee! –