ihre Bitten erhört und ihnen bisher immer das tägliche Brot gegeben. Und nun wurden auch noch Herta und Hanna bei ihrer Schwester vier Wochen lang versorgt. „Herr, hab Dank für deine Güte und Freundlichkeit!“
Anna freute sich schon auf den Besuch bei ihrer Cousine, sahen sie sich doch nur bei großen Feierlichkeiten.
Um so herzlicher war der Empfang. Hedwig nahm die Kinder mit offenen Armen auf und umarmte Anna herzlich. „Kommt herein, ich habe schon auf euch gewartet und den Kaffeetisch gedeckt.“ „Kinder, esst, so viel wie ihr essen könnt! Morgen kann ich einen neuen Kuchen backen.“ Das ließen sich Hanna und Herta nicht zwei mal sagen und in kürzester Zeit war der Napfkuchen fast aufgegessen. Hedwig und Anna sahen sich an und verständigten sich über den Appetit mit Augenzwinkern. Noch mit vollem Mund stürmte Hanna auf den Hof, um die Inspektion zu beginnen.
„Lege dich hier ein bisschen auf das Sofa und ruhe dich aus, du wirst müde sein“, war die einfühlsame Aufforderung an Anna. Nur zu gerne genoss Anna diese Situation für eine kleine Weile und genüsslich legte sie sich hin. Sie fühlte sich eigenartig wohlig und behütet. Wann hatte sie sich schon einmal am Sonntagnachmittag hinlegen können? Hedwig holte noch eine Wolldecke, deckte damit ihre Cousine zu und setzte sich daneben. Sie hatten sich viel zu erzählen.
Doch so viel Zeit war gar nicht und die Zeit verging wie im Flug, denn vor dem Abendbrot wollte Anna wieder Zuhause sein. Hedwig packte schnell ein paar Würste, eine Seite Speck, ein Glas Schmalz und ein paar Eier für Anna ein.
„Hanna, Herta, kommt her, eure Mutter will sich verabschieden!“ erscholl es über den Hof. Beide kamen sofort angerannt. Die Augen strahlen. Am liebsten hätten sie gleich alles herausgesprudelt, was sie bereits in dieser kurzen Zeit erlebt hatten, aber Tante Hedwig bremste sie: „Das könnt ihr mir alles heute zum Abendbrot erzählen. Verabschiedet euch von eurer Mutter, sie hat Sehnsucht nach den anderen Kindern und nach euerem Vater!“ Lächelnd übergab sie Anna die Esswaren. „Hanna, sei nicht so wild! Helft Tante Hedwig bei der Hausarbeit, im Garten und wo sonst eure Hilfe gebraucht wird. Wer essen will, muss auch arbeiten! Denkt daran!“ Schnell bekam die Mutter ein Küsschen und schon waren beide wie der Wind wieder weg. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich werde mit den beiden Mädchen schon einig werden“, waren die gut gemeinten Worte an Anna.
*
Die Zeit verging im Sauseschritt.:
Am 19. 8. 1922 wurde Erna geboren.
Innerhalb eines Jahres veränderte sich das wirtschaftliche Leben in Deutschland total: 1922/23 sprach man nun offen von einer schweren Wirtschaftskrise. Die Abwertung der Reichsmark trudelte ins Bodenlose. Die Steuereinnahmen des Staates deckten nur noch 1 % der Ausgaben des Staatshaushaltes, 99 % mussten durch den Druck von Papiergeld finanziert werden. Die Kapazität der Notenpressen und des Papiers reichte nicht mehr aus.
Früher holte ein Bote die Lohngelder von der Bank, jetzt musste es waschkörbeweise mit Lastkraftwagen geholt und an die Leute verteilt werden. Die Teuerungsrate z. B. für Lebensmittel entwickelte sich so rasant, dass Anfang Januar 1923 ein Kilogramm Roggenbrot 163,- M und am 19. November schon 233 Milliarden Mark kostete. Ein Zentner Brikett hatte Anfang Januar noch einen Preis von 1865,- M, am 19. 11. kostete er aber schon 1 Billion und 372 Milliarden Mark. In ähnlicher Weise entwickelten sich die Preise für alle Waren.
Die Betriebe gingen dazu über, die Lohnzahlungen täglich vorzunehmen, da eine Verrechnung am Wochenende für den Arbeiter keinen Wert mehr hatte. Dadurch konnten in den Betrieben mehr Angestellte arbeiten, aber es ermöglichte auch die Hamsterkäufe in verstärktem Maße, da ja das Geld sofort in den Geschäften wieder umgesetzt wurde. Wer das im großen Stil betreiben konnte, wurde dabei reich. Viele Geschäfte mussten jedoch schließen, da sie die Waren zum verkauften Preis nicht wieder einkaufen konnten. Es kam in einer Reihe von Städten zum Sturm auf die Lebensmittelgeschäfte und deren Plünderungen.
Es fehlte in den Geschäften an Nachschub, denn die Bauern weigerten sich, die Ernte zu verkaufen, da sie nach 14 Tagen für das Geld nichts mehr bekamen. Die, die noch etwas verkauften, verlangten dafür Dollar oder Rubel, da diese Währungen stabil geblieben waren und Sicherheit versprachen. Und so ging man auch dazu über, für Dienstleistungen Naturalien zu verlangen. So musste man für eine einfache Beerdigung 10 Eier und für eine Grabrede nochmals 40 Eier beim Prediger abliefern. Auch Ärzte, Schuhmacher, Frisöre usw. gingen dazu über, nicht mehr für Geld zu arbeiten.
Die Nachfrage nach Naturalien und fremder Währung wurde immer größer, da mit dem eigenen Geld keine Versorgung mehr möglich war. Wer Geld hatte, tauschte es, obwohl im November 1923 ein US-Dollar einen Wert von 4,2 Billionen Reichsmark hatte.
Anfang August 1923 wurde in Königsberg das Notgeld herausgegeben.
Vorder- und Rückseite eines Notgeldscheines der Provinz Ostpreußen 1922/23
Es wurden z. B. von den Städten – so auch von Königsberg – Gutscheine für oder in Form von Waren herausgegeben für Roggen, Kartoffeln, Stromverbrauch, Holz, Kohle, Gas- und Wasserverbrauch. In Thüringen wurde das Notgeld in Form von Lederstücken, in Bielefeld aus Leinen und Seidenspitzen herausgegeben, da der Papierverbrauch für die Gelddruckereien nicht mehr ausreichend war.
Die Masse der Bevölkerung war am Ende. Sparer hatten ihr Geld verloren, die Rentenansprüche waren nichts mehr wert, der Hausbesitz warf wegen der staatlichen Mietbindung keinen realen Ertrag mehr ab. Persönliche Gegenstände (Schmuck, Hausrat, Möbel) wurden an „Raffkes“ verkauft, um sich vielleicht ein Brot dafür einhandeln zu können. Alles, was entbehrlich war, wanderte in das Pfandleihhaus. Es gab viele Obdachlose und viele, die sich das Leben nahmen.
Für die Reichen entstanden Luxusgeschäfte und Luxusgaststätten und allgemein die „Goldenen Zwanziger Jahre“.
Bei Familie Krohn waren die Probleme genau wie bei den anderen Menschen in der Stadt, die die Nachteile der Inflation tragen mussten. Die Mutter konnte die Kinder nicht mehr zum Einkaufen schicken, da sie mit den großen Summen auf den Geldscheinen nicht mehr klar kamen. Oftmals wusste Mutter nicht, wie sie die sieben Kinder satt bekommen sollte. Sie schickte dann die Großen auf die Wiesen der näheren Umgebung, damit sie Sauerampfer, Brennnesseln, Melde und Löwenzahn zum Essen und Huflattich und Wegerich als Heilkräuter sammelten.
Aber zu Weihnachten - da sollte das mit aller Liebe gefütterte Schwein endlich geschlachtet werden. Kinder und Eltern malten sich aus, dass dann alle für lange Zeit viel zu essen hätten. Doch ein paar Tage zuvor, als Mutter füttern wollte, war es nicht mehr da! Der Stall war zwar verschlossen, aber das Schwein war weg. Keiner konnte das Unfassliche begreifen. Mutter stand zunächst wie versteinert vor dem Stall und rief dann nach den Kindern, ob die vielleicht etwas wüssten. Auch die Hausbewohner hatten nichts gehört und gesehen, dass ein Unbekannter im Hof gewesen wäre. In dieser schweren Zeit war die grösste Versorgungsreserve einfach gestohlen worden!
Was half da aber alles Jammern. Vater musste nun aber mit allen Mitteln die Sicherheit erhöhen und ein neues Tor zwischen Vorder- und Hinterhaus bauen, damit die Verluste nicht noch größer wurden, denn die Kaninchen, Hühner und das Gemüse wollten sie nicht auch noch einem ungebetenen Gast überlassen.
Die Kinder beobachteten ihre Mutter aufmerksam und konnten es gar nicht glauben, dass sie, obwohl nun die Versorgungslücke so groß war, noch singen konnte. Aber Mutter summte still ein Lied nach dem anderen vor sich hin und machte dabei ihre Arbeit. Eigentlich sang Mutter immer leise vor sich hin, wenn sie Kummer hatte, nie war es aber Hanna so aufgefallen, wie heute. „Mutter, wie kannst du noch singen, wenn du doch nun so große Sorgen hast?“ „Ach, Kind, gerade weil ich Sorgen habe, tröste ich mich mit meinen Liedern. Dadurch finde ich Trost und Gott gibt mir wieder Kraft, alle Sorgen und Nöte zu ertragen. Das ist für mich wie ein Gebet, nur kann ich dabei meine tägliche Arbeit tun.“
Jetzt kannte Hanna