jedoch in einem wachen Moment den eben eingetretenen Freund und erhob sich zu dessen übertrieben unterwürfiger Begrüßung. Dass er damit nur die vormitägliche Huldigung von Friedrich Wilhelm IV. durch die untertänigen Berliner Bürger karikierte, fiel vermutlich nicht alleine von Gontard auf. Auch ihn hatte das Stunde um Stunde währende Zeremoniell zunehmend angewidert, all diese Lobhudeleien und Ergebenheitsadressen an einen Monarchen, der sich im Gegensatz zu seinem einsilbigen Vater und Vorgänger, auf den er sich ausdrücklich berief, als erstaunlich redselig erwies und im Laufe der Feierlichkeiten mehrfach das Wort ergriff, ohne dabei allerdings Wesentliches verlautbaren zu lassen. Verstanden hatten ihn ohnehin nur diejenigen, die der eigens errichteten hölzernen Empore nahe genug standen, einem mit einer geschmückten Balustrade und weiten Treppenaufgängen versehenen Vorbau vor der Lustgartenfassade des Schlosses, unter deren höchster Überdachung Friedrich Wilhelm in seinem Thronsessel die Zeremonie genoss.
Gontards Geschmack traf derlei Pomp und Aufwand nicht, doch hatte er als Militär gelernt, seine persönlichen Anschauungen für sich zu behalten. Eigene Meinungen waren in Preußen nicht gefragt. Das würde sich kaum ändern. Anscheinend fiel es den wenigsten Staatsbürgern auf, dass vom neuen König öffentlich nicht nur vom Herrscher, sondern auch vom »Beherrscher« die Rede war.
Dabei hatte dessen Herrschaft im Sommer durchaus hoffnungsvoll begonnen. Der huldvolle Monarch hatte die vor Jahren zum Tode verurteilten Burschenschafter endgültig freigegeben und im Laufe seiner ersten Regierungsmonate noch mancherlei getan, was die Erwartungsvollen wie die Unzufriedenen beruhigte. In fröhlicher Runde konnten Heidenreich und Gontard die Gläser auf die neuernannten Leuchten der Wissenschaft an der Universität erheben, die wegen ihrer Unbotmäßigkeit in Göttingen abberufenen Gebrüder Grimm, die nunmehr das Berliner Geistesleben beflügeln würden. Was von dem erzkonservativen Stahl kaum zu erwarten war, wie Heidenreich sofort eingewandt hatte. Dass man zahnlose Greise wie den alten Turnvater Jahn nicht länger unter Polizeiaufsicht zu halten gedachte und betagte Alt-Politiker wie Herrn von Boyen wieder zu Generälen berief, hielt er kaum für ein Anzeichen künftiger Liberalität. Die Verfassungsfrage, so dozierte er, sei der entscheidende Faktor, an dem sich jede Progression der Monarchie messen lasse.
Die im Mai 1815 im Überschwang des Sieges über die Franzosen von Friedrich Wilhelm III. versprochene Verfassung war im Laufe der Jahre zumindest beim König selbst gänzlich in Vergessenheit geraten - nicht jedoch bei seinen Landeskindern. Bald hatten die drakonischen Demagogenverfolgungen das ihre dazu beigetragen, die Erfüllung jenes Versprechens besser nicht anzumahnen. So blieb es 25 Jahre lang.
Im September 1840 hatte der neue Monarch die Erbhuldigung der Stände des Königreichs Preußen und des Großherzogtums Posen hinter sich gebracht und bei dieser Gelegenheit sechs neue Grafen und einen Freiherrn ernannt, zehn Rittergutsbesitzer in den Adelsstand erhoben und 53 Orden verliehen. In Berlin hatte Ähnliches in weitaus größerem Maße stattgefunden. Alles nur billiger Protz, wie Heidenreich schon vorher gegenüber von Gontard anzumerken wusste, der ihm nicht widersprach.
Immerhin hatte sich bereits in Königsberg erwiesen, wie der neue Friedrich Wilhelm auf das eigentliche Problem Brandenburg-Preußens reagierte. Dort hatte sich der Landtag des alten Rechts besonnen, anlässlich der Huldigung Bitten und Beschwerden vorzubringen. Mit großer Mehrheit wurde der Antrag auf reichsständische Verfassung gemäß dem königlichen Versprechen vom 22. Mai 1815 vorgetragen, was der König höchst ungnädig aufgenommen und im Landtagsabschied glatt abgelehnt hatte. Der vorige König, so ließ Friedrich Wilhelm IV. den in allen Landen ernüchtert aufhorchenden Untertanen verkünden, sei nach reiflicher Überlegung von der allgemeinen Volksvertretung zurückgekommen und habe sich zu der provinzial- und kreisstädtischen Verfassung als dem der deutschen Volkstümlichkeit entsprechenden Weg entschlossen. Diesen Weg werde auch er selbst unabänderlich verfolgen.
Damit war alles gesagt. Von Gontard, seitens der Familie von durchaus königstreuer Herkunft und an Unabänderliches gewöhnt, missbilligte Heidenreichs Erregung dennoch nicht, fürchtete jedoch, dass den Freund noch mancherlei Schwierigkeiten erwarteten.
Zum Ritterstande gehörig, durfte von Gontard zusammen mit den Standesherren und dem hohen Klerus an der Huldigung im Weißen Saal des Schlosses teilnehmen, während sich bürgerliche Naturen wie Heidenreich nach dem Défilé im verregneten Lustgarten eilig in die trügerische Geborgenheit des Kasperski’schen Weinkellers zurückzogen. Wie lange sie hier schon beieinanderhockten, war der Lebhaftigkeit und Lautstärke ihrer Gespräche anzumerken, wobei sie sich bezüglich der Themen keineswegs die übliche Zurückhaltung auferlegten. Es schien, als fürchte an diesem Abend niemand die tausend Ohren der Geheimen Polizei, die in Kasperskis Etablissement so sicher lauschten wie an jedem öffentlichen Ort. Unweit der dichtgedrängten Heidenreich’schen Schar, die Kasperski persönlich bediente, hockte auch hier einer ganz allein an einem Tischchen, schlecht getarnt durch ein Journal, in dem er vorgab zu lesen, und ließ die Kugelaugen hin und her blitzen.
Auch dieses Spähers wegen hielt es von Gontard für geraten, sich mit einer abwehrenden Handbewegung bei Heidenreich zu entschuldigen und ihn mit einer weiteren Geste vor allzu großer Kühnheit zu warnen, bevor er sich einen ruhigeren Platz suchte. Zu seiner Überraschung fand er den im Nebenraum, wo eine weitere muntere Runde bei einem guten Schoppen am Tisch saß, darunter der Schriftsteller Julius Eduard Hitzig. Was mochte den an einem solchen Abend ausgerechnet in Kasperskis schlecht beleumdetes Etablissement getrieben haben?
»Nun? Wie sieht es mit unserem Freund Bathurst aus?«, rief der lebhafte kleine Mann von Gontard fröhlich entgegen. »Dürfen wir die Reste seines Leichnams demnächst in Augenschein nehmen, oder haben Sie ihn lebend in Frankreich aufgespürt?«
Hitzigs gealtertem Kindergesicht hinter der Brille sah man den ehemaligen Criminalrath und Kammergerichtsdirector nicht ohne weiteres an. In Preußens Leidensjahren aus dem Staatsdienst entlassen, hatte der Jurist sich erfolgreich als Übersetzer, Verleger und Buchhändler versucht und erste eigene Werke veröffentlicht. In jenen Jahren genoss sein Lesezimmer nicht nur unter den Studenten anhaltenden Ruhm. Er war ein vielseitiger Mann, wie er acht Jahre lang als Herausgeber der Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten oder als Begründer und Mitglied der literarischen Mittwochsgesellschaft bewiesen hatte.
Seine engsten Freunde, die Dichter E. T. A. Hoffmann und der mit Hitzigs Pflegetochter Antonie verheiratete Adelbert von Chamisso, waren inzwischen dahingegangen. Hitzig, seit einigen Jahren nur noch schriftstellernd, dachte daran, deren Lebensbeschreibungen zu verfassen. Das Haus in der südlichen Friedrichstraße teilte Hitzig mit der Tochter Clara, ihren Kindern und ihrem Mann, dem angesehenen Kunsthistoriker und Professor Franz Kugler. Eine zweite Tochter war die Frau des berühmten Geodäten Baeyerlein.
Der Familie gehörte auch das prächtige Palais Itzig in der Burgstraße, denn Hitzig war der Enkel des Oberhofbanquiers Friedrichs des Großen, Daniel Itzig. Seine Schwester Lea war mit einem Sohn des großen Moses Mendelssohn verheiratet, und sein Sohn Georg galt als hoffnungsvoller und vielversprechender Architekt.
Gontard schätzte Hitzig als einen amüsanten und sachkundigen Gesprächspartner, der gerne mit interessanten Fällen aus seiner reichen Berufserfahrung aufwartete. Umso weniger schätzte er es allerdings, gänzlich unerwartet in den Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit zu geraten. Also versuchte er, die angesprochene Suche nach dem verschwundenen Bathurst herunterzuspielen, indem er die Rolle des beschämten Verlierers übernahm. »Sie haben leider recht behalten, lieber Herr Criminalrath. Ich habe nicht das Geringste herausgefunden.«
Voller Enttäuschung war er erst wenige Tage zuvor in die preußische Residenz zurückgekehrt. Trotz aller Mühe war es ihm nicht gelungen, das mysteriöse Verschwinden des Lord Bathurst aufzuklären. Glücklicherweise hatte er sich diesbezüglich auf keine Wette mit den beiden Schriftstellern und Rechtsgelehrten Hitzig und Alexis eingelassen, die seit längerer Zeit ein Buch in der Art des Franzosen Pitaval über bemerkenswerte Criminalfälle planten. Seit sie in seiner Anwesenheit im Café Stehely das geheimnisvolle Verbrechen an dem jungen englischen Diplomaten in all seinen Facetten erörtert hatten, war ihm der Fall nicht aus dem Sinn gegangen. Da er nun einmal die trübe Oktoberwoche nach Michaelis auf seinem Gut in der wenig aufregenden Prignitz zu verbringen gedachte, ließ sich diese Gelegenheit günstig nutzen, nicht nur den eigenen Pferdebestand