Ludwig hatte seinen gutmütigen Spott damit getrieben und behauptet, es enthielte ohnehin ein Gutteil verfälschender Beimengungen wie Beinschwarz oder gar Steinkohlenpulver. Empört hatte der Vater derlei Verdächtigungen von sich gewiesen.
Albertine war der Duft der gebrannten Unkrautwurzel ebenso vertraut wie unangenehm. Sie bevorzugte die poetische Bezeichnung Sonnenwirbelwurz, aber auch die machte das Produkt aus dem gemeinen Wegwart kaum sympathischer.
Glücklicherweise befand sich die Knoppe’sche Brennerei nicht wie andere Gewerbe im Hof des eigenen Hauses, und das keineswegs aus Platzgründen. Die scharf gebrannten, zu Haufen aufgeschütteten oder in Fässern eingestampften Wurzeln entzündeten sich angeblich leicht von selbst, weshalb die Produktion nur außerhalb der Stadtmauern geduldet wurde.
Doktor Heidenreich hatte sich bei ihr nach allen Einzelheiten der Fabrikation erkundigt und auch den Vater eingehend befragt, dann jedoch jegliches Interesse an dem braunen Pulver verloren, das ihm seine tägliche Morgenlabsal lieferte. Dass er ansonsten Wein oder noch stärkere Getränke bevorzugte, war kein Geheimnis. Er stammte schließlich aus dem Süddeutschen, wo der Wein etwas bekömmlicher ausfiel als der heimische Berliner Essigtrunk.
Heidenreich war der hoffnungsvolle jüngste Spross einer im hohenzollernsch-sigmaringschen Ländle alteingesessenen Familie von Feldschern, Handelsleuten und angesehenen Militärs. Er war in jenem Jahr nach Berlin gekommen, in dem zu seiner Begeisterung die erste Lokomotive einen Zug ins nahe Zehlendorf und wenig spatter bis nach Potsdam gezogen hatte. Zwar hatte man die erste Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth erbaut, doch erst die riesigen Flächen und Entfernungen im erstarkenden Preußen ließen ahnen, wo die Zukunft für das neue Verkehrsmittel zu erwarten war. Inzwischen baute man eine Strecke ins Anhaltinische, Schienenpaare nach Stettin und Hamburg würden folgen.
Dennoch war es nicht die Eisenbahn, die das Interesse des jungen Wissenschaftlers in erster Linie fesselte. Seine wahre Berufung sah er in der Erforschung jener geheimnisvollen Kraft, die gewissen Elementen und Stoffen unsichtbar innewohnte, der Elektrizität. Seine außergewöhnliche Begabung für alles Verstandesmäßige, am besten mathematisch oder physikalisch Erfassbare, hatte ihm früh die Abneigung seiner geistlichen Mentoren eingebracht, ihm dessen ungeachtet jedoch zu einem baldigen Universitätsstudium verholfen. Da die württembergische Eberhardo-Carolina zu Tübingen in den Naturwissenschaften lediglich eine medizinische Laufbahn eröffnete, war er nach Freiburg und Jena und schließlich nach Göttingen gewechselt, ohne dort indes so tief in die Geheimnisse der Physik einzudringen, wie er es sich vorgestellt und gewünscht hatte. Nicht zu Unrecht bezweifelte er, dass einer der Herren Professoren - vom großen Gauß einmal abgesehen - nur annähernd den wissenschaftlichen Gehalt seiner eingereichten Doktorarbeit über den Aufbau und das Verhalten elektrischer Felder unter atmosphärischer Beeinflussung zu erfassen in der Lage war. So musste er sich mit einem flauen cum laude als Bewertung zufriedengeben.
Rastlos war Gebhardt Heidenreich durch die im Deutschen Bund vereinten Lande gezogen. Das junge, erst von Napoleon geschaffene Königreich Württemberg reizte ihn so wenig zum Bleiben wie das enge Großherzogtum Baden. Viel freier fühlte er sich im protestantischen Norden, wo sich in den Manufacturen der großen Städte nüchterner Geschäftssinn mit technischem Interesse zu paaren begann. Hier, so durfte er träumen, würde es ihm gelingen, wenigstens einige der Ideen, die in seinem Kopf herumspukten, in die Wirklichkeit umzusetzen.
Seit ein gewisser Simon Ohm die Abhängigkeit der Stärke des elektrischen Stromes von den elektromotorischen Kräften und dem in der galvanischen Kette vorhandenen Widerstand entdeckt und in einem Gesetz formuliert hatte, gab es für Heidenreich kaum Wichtigeres, als beinahe Tag und Nacht im Laboratorium herumzuwerken und zu experimentieren. Insbesondere fesselten ihn alle Mitteilungen über Versuche, Nachrichten mittels elektrischen Stroms schnell und über größere Entfernungen zu befördern. Der optische Telegraph, dessen windmühlenartige Flügel den Turm der Sternwarte neben der Universität zierten, war nur ein bescheidener Anfang. Immerhin konnte eine Nachricht nach Paris den Zielort im Verlauf von etlichen Stunden erreichen - kein Vergleich mit dem höchst unsicheren und schleppenden privaten Correspondenzverkehr, von der scharfen preußischen Postkontrolle ganz abgesehen. Die Elektrizität mit ihrer bislang unmessbar hohen Geschwindigkeit würde die Übermittlung von Nachrichten innerhalb von Minuten ermöglichen. Davon träumte Gebhardt Heidenreich insgeheim, wobei er die Postzensur keineswegs vergaß. Die würde in jedem Falle mitlesen.
Fasziniert hatte er zur Kenntnis genommen, dass von dem Amerikaner Samuel Morse in New York das Modell eines Drucktelegraphen aufgestellt und in Funktion gesetzt worden war. Sein erklärtes Ziel bestand darin, ein ähnliches System zur zuverlässigen elektrischen Nachrichtenübermittlung zu konstruieren. Da es sich bei einer solchen Apparatur ausschließlich um den Bedarf für militärische Belange handeln konnte, fühlte Heidenreich sich als ziviler Lehrer wie als Erfinder an der Artillerie- und Ingenieurschule durchaus am rechten Platz.
Bis 1816 hatte in Berlin nur eine allgemeine Kriegsschule mit einer kaum den Ansprüchen einer modernen Armee genügenden Ausbildung existiert. Erst die Freiheitskriege und die damit für wenige Jahre verbundene Zeit der Reformen hatten die längst notwendige Gründung einer speziellen Artillerieschule und wissenschaftlichen Ausbildungsstätte für die Ingenieur-Offiziere begünstigt. Neben einigen alten Starrköpfen waren fähige Lehrkräfte herangezogen worden. Selbst der von Heidenreich so verehrte Simon Ohm hatte an der Kriegsschule gelehrt, und sein Bruder, der Mathematiker und Universitätsprofessor Martin Ohm, gehörte zu Heidenreichs Beglückung zum Kollegium der Artillerieschule.
Mit dessen Hilfe gedachte sich Heidenreich in der Mathematik zu vervollkommnen. Nicht weniger glücklich stimmte ihn die Feststellung, dass sein Kollege Christian Philipp von Gontard seine Leidenschaft für die Physik, wenn auch nicht im gleichen Maße für die elektrische Telegraphie, mit ihm teilte.
Mit dem nur wenig älteren Major von Gontard, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte und dem es dennoch im Gegensatz zu fast allen anderen adligen Offizieren an jeglichem Hochmut oder gar Standesdünkel gebrach, verstand sich Heidenreich in den letzten Monaten immer besser. Manchmal verbrachten sie Stunden und Tage miteinander in dem Kellerraum der Schule, den der Director Heidenreich mit einem anzüglichen Lächeln zur Verfügung gestellt hatte. Wie viele Offiziere des Lehrkörpers glaubte er nicht recht an jene wundersame Kraft, die den komplizierten Versuchsaufbauten der beiden Enthusiasten innewohnen sollte. Selbst den schmerzhaften Schlag, der seine entgegen Heidenreichs dringender Warnung zwischen zwei Kupferplatten gehaltene Hand getroffen hatte, war er geneigt, für einen Taschenspielertrick des Physikers zu halten.
Neben der Physik, die sie im Geiste vereinte, begünstigte ein weiterer Umstand die enge und bald auch freundschaftliche Beziehung zwischen Heidenreich und Gontard. Sie tolerierten gegenseitig die außerphysikalischen Vorlieben des jeweils anderen: Heidenreich die Passion des Majors, sich für die Aufklärung von Verbrechen zu interessieren, an denen es in der königlich preußischen Residenz nicht mangelte - von Gontard hingegen Heidenreichs geradezu manische Schwäche für die Genealogie des Hohenzollerngeschlechts. Dass es darin mancherlei dunkle und aufklärenswerte Punkte und Fehltritte gab, bestritt Gontard nicht, teilte jedoch Heidenreichs Leidenschaft für die illegitimen Verzweigungen und nachträglich geadelten Seitenlinien des Königshauses nicht.
Gebhardt Heidenreich sprach nicht einmal von Gontard gegenüber den wahren Grund dafür aus. Er glaubte nämlich, frühzeitig den für sein Leben entscheidenden Fleck in der Heidenreich’schen Familiengeschichte entdeckt zu haben, und das einmal erwachte Jagdfieber hatte ihn nicht wieder verlassen. Unausgesprochen war auch das ein Grund gewesen, seine Wirkungsstätte hierher nach Berlin zu verlegen, wo seit vierhundert Jahren der zu einem kräftigen Stamm herangewachsene brandenburgisch-preußische Hauptzweig der Hohenzollern herrschte und sich legitim wie illegitim fortpflanzte.
Seine Mutter, so hatte Gebhardt schon in zartem Kindesalter den verstohlenen Gesprächen der Erwachsenen abgelauscht, konnte mit verstecktem Stolz auf ihre enge Verwandtschaft mit den sigmaringerischen Fürsten blicken, war sie doch die Frucht eines großmütterlichen Fehltritts, dessen männlichen Part zweifelsfrei ein namentlich Ungenannter aus der fürstlich-hohenzollernschen Sippe gespielt hatte. Trotz intensiver Bemühungen und jahrelanger Nachforschungen war es Gebhardt zu seinem Leidwesen nicht gelungen, den ehrlosen Erzeuger eindeutig