Johannes Sachslehner

Der Henker


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inzwischen die Menschen die Hoffnung auf ein baldiges Ende ihrer Leiden nicht aufgegeben. Von ihren Peinigern zum Tode bestimmt, klammern sie sich an die Macht des Überirdischen. Von jenen Weisen, die um die Geheimnisse der alten Schriften wissen und in den Sternen zu lesen gelernt haben, hat man erfahren, dass noch in diesem Jahr sich ein großes Wunder ereignen würde und der Krieg dann sofort zu Ende wäre. Ja, es geht sogar das Gerücht, dass ein tzadik, ein Heiliger, im Ghetto lebe, der Tag und Nacht mit seinem Fernrohr nach einem Zeichen des Himmels suche, um dann die shofar, das Widderhorn, blasen und so das Erscheinen des Messias ankündigen zu können. Und ein anderes Gerücht will wissen, dass die Arbeiter in der Metallfabrik zufällig einen Wasserhahn in der Form des Davidsterns gegossen hätten, ein sicheres Zeichen dafür, so meint man, dass der Erlöser in Kürze die Mauern des Ghetto einreißen und jedem Hungrigen einen großen Laib Brot anbieten würde, jenen Hungrigen, die nun verzweifelt um ein Stück altes Brot beteten. Und man erzählt sich die neuesten Nachrichten, die der heimlich abgehörte Sender Voice of America verbreitet: Eine zweite Front würde durch die Alliierten bald eröffnet und die Nazis und ihre Verbündeten vernichtet werden. Nacht für Nacht wartet man so auf das Ertönen der shofar, auf das Zeichen der Erlösung und die Botschaft, dass Gott sein auserwähltes Volk in dieser schweren Stunde nicht im Stich lasse.

      

      Eine jüdische Familie aus dem Krakauer Ghetto wartet auf die Deportation in ein Vernichtungslager.

      Am 28. Oktober 1942 findet die zweite große Deportation aus dem Ghetto statt. Jeder der Ghettobewohner, so die Aufforderung durch die SS, habe sich am Plac Zgody mit seinen wichtigsten Besitztümern einzufinden, man würde das Ghetto „liquidieren“ und alle in Arbeitslager transportieren. Auf den Gesichtern der Menschen, die auf dem Platz mit Koffern und Bündeln zusammenströmen, spiegelt sich die Angst. Man spürt, dass sich hinter den nüchternen Anweisungen der Nazis etwas Furchtbares verbirgt. Etwa 4.500 Menschen werden in die Viehwaggons gepfercht; wieder tötet man in den Wohnungen Kinder und alte Menschen; im Spital erschießt man die Kranken mitsamt den Ärzten.

      Betroffen davon ist auch die Familie Sternlicht, die im März 1941 gezwungen worden ist ins Ghetto zu gehen. Vater Szymon Sternlicht, ehemals Soldat der k. u. k. Armee und Inhaber eines metallverarbeitenden Unternehmens in Krakau, besitzt zwar eine Legitimation der Gestapo und spricht fließend Deutsch, aber auch das hilft ihm nichts – er muss den Todeszug ins Vernichtungslager Bełżec besteigen. Zurück bleiben seine Frau Lola, die sich bei einer Christin verstecken kann und so dem Transport entgeht, und die drei Töchter Bronia, Helen und Sydonia. Was mit den „ausgesiedelten“ Juden geschieht, ist inzwischen kein Geheimnis mehr. Von polnischen Eisenbahnern weiß man, dass die Menschen am Zielort spurlos „verschwinden“ und die Züge leer zurückkehren. Die Eisenbahner berichten von Schreien, die sie gehört hätten, Gerüchte von Gaskammern machen die Runde. Soll das Unvorstellbare, der fabriksmäßige Massenmord, tatsächlich Wirklichkeit sein? „Wir wussten es, aber wir wollten es nicht glauben“, wird Helen Sternlicht später über die Stimmung im Ghetto erzählen.

      In diesem Todeszug nach Bełżec, zusammengepfercht in einem Viehwaggon, ohne Wasser und mit kaum ausreichend Luft zum Atmen, befindet sich auch die Familie Lezerkiewicz: Abraham und Bertha Lezerkiewicz und drei ihrer fünf Kinder: Leon, Victor und Greta. Zwei Kinder fehlen: Das jüngste, Sohn Jakub, ist bei einer polnischen Familie außerhalb des Ghettos versteckt, das älteste, Tochter Lola, ist bereits 1932 nach Palästina ausgewandert. Vater Abraham hat in der Targowastraße 1 in Kazimierz ein kleines Stoffgeschäft geführt, ins Ghetto ist er im Frühjahr 1942 aus Niepolomice, einem kleinen Ort in der Nähe Krakaus, gekommen. Keiner der Familie konnte einen Blauen Schein ergattern, auch die erwachsenen Söhne nicht, die beide immerhin über eine gültige Arbeitsbescheinigung als Kraftfahrzeugmechaniker verfügten – aber auch diese praktische Profession hatte sie nicht vor der „Aussiedlung“ retten können. Der 24-jährige Victor, der im Sanitätszweiglager Krakau der Waffen-SS tätig gewesen war, hatte sogar eine „Unabkömmlichkeits-Bescheinigung“ vorgezeigt, doch der die „Aktion“ leitende SS-Offizier, Hauptsturmführer Martin Fellenz, hatte sie ihm aus Hand genommen und ungelesen zerrissen; sein lapidarer Kommentar: „Nehmt ihn weg!“ – das Todesurteil.

      Victor und sein Bruder Leon, genannt „Leszek“, waren vor der Okkupation Polens durch die Deutschen Mitglieder einer zionistischen Jugendorganisation gewesen und sind entschlossen, nicht alles ohne Gegenwehr hinzunehmen: Sie wollen fliehen. Das Blatt einer Bügelsäge, das Victor in seinem Stiefel immer mitträgt, kommt nun gerade recht: Er beginnt damit die Streben der Metallvergitterung des kleinen Fensters des Waggons durchzusägen – eine Nerven aufreibende Mühsal, da er immer wieder beschworen wird, doch damit aufzuhören, es würden alle erschossen, wenn die Wachen beim Zählappell am Ankunftsort bemerkten, dass jemand fehlte: Auch die bewaffneten SS-Leute am Dach könnten aufmerksam werden. Victor lässt sich jedoch nicht irritieren – „Fahren Sie zum Arbeiten oder in den Tod – was meinen Sie?“, ist seine Gegenfrage, „ich bin überzeugt davon, dass wir alle in die Gaskammer kommen!“ Selbst der Tod beim Sprung aus dem Fenster wäre ihm da noch lieber.

      Als es dunkel wird, ist Victor mit dem Durchsägen der Fensterstreben fertig; jetzt geht es nur mehr darum, den günstigsten Moment zur Flucht abzuwarten. Schwester Greta, die zwei Jahre älter ist als Victor, will nicht springen, auch die Eltern fühlen sich dazu nicht imstande. Man nimmt voneinander Abschied. Vater Abraham gibt Victor Geld und seine goldene Schaffhausen-Uhr mit Kette; Leszek erhält von Muttter und Schwester Schmuck, um ihn zu Geld zu machen. Der Vater segnet Victor und Leszek, man umarmt sich ein letztes Mal, alle haben Tränen in den Augen. Gespannt beobachten die beiden Brüder das Gelände, das der Zug durchquert. Als neben der Bahntrasse der Wald von Niepolomice auftaucht, springen sie – zuerst Victor, dann Leszek. Victor schlägt mit dem Kopf auf den Schienen eines Nebengleises auf und verliert das Bewusstsein.

      Es ist noch immer dunkel, als Victor zu sich kommt. Von Leszek keine Spur. Er entschließt sich trotz schmerzender Prellungen und Blutergüsse die Gleise entlang Richtung Krakau zurückzulaufen, immer in der Hoffnung, seinen Bruder zu finden. Am Bahnhof Kłaj steigt er in einen Zug nach Bochnia, seine Hoffnung, dass Leszek dort Zuflucht bei Verwandten im Ghetto von Bochnia gesucht hat, erfüllt sich jedoch nicht und so verlässt er das Ghetto in Richtung Bahnhof. Auf dem Weg dorthin kommen ihm SS-Sondertruppen entgegen, die ihn zum Glück unbehelligt lassen, da er kein Armband mit dem Davidstern trägt. Juden, die ohne Armband angetroffen werden, werden auf der Stelle erschossen, ebenso Juden, die es wagen, mit der Eisenbahn zu fahren. Erst später erfährt Victor, was die SS in Bochnia vorhatte: Sie „liquidierte“ an diesem Tag das Ghetto, auch von hier wird ein Transport nach Bełżec geschickt, unter den Opfern sind alle seine Verwandten, von denen er nie wieder etwas hören wird. Da ihm die Chance zu überleben dort größer scheint und er keine Verbindung zu Partisanengruppen hat, kehrt Victor schließlich nach Krakau ins Ghetto zurück – Leszek ist zu seiner Freude bereits vor ihm hier eingetroffen. Von den Tausenden von Menschen im Todeszug wird sonst niemand überleben; ihr Mörder Martin Fellenz wird es nach dem Krieg zum FDP-Ratsherren in Schleswig bringen, ehe 1965 er doch noch wegen Mordes an 39.000 Juden angeklagt wird – das Urteil: 7 Jahre Gefängnis.

      Im Ghetto hat sich nun auch Jakub, genannt „Kuba“, der jüngste, eingefunden, er hielt es bei der polnischen Familie nicht mehr aus und wollte seine Familie wiedersehen – zu spät. Victor gelingt es, ihm durch Bestechung jenes Juden, der für die Liste der vorgesehenen jüdischen Arbeitskräfte zuständig ist, eine Anstellung in den „Kabelwerken“ zu beschaffen – ein begehrter Job, denn diese Fabrik wird von einem Deutschen namens Böhme geführt, der seine „Arbeitsjuden“, so erzählt man sich, wie Menschen und nicht wie Vieh behandelt.

      Victor, der nun keine Kennkarte mehr besitzt und daher ständig in Gefahr schwebt, findet zunächst in einer Groß-Schneiderei Unterschlupf, dann holt ihn seine alte Dienststelle, das Krakauer Sanitätszweiglager, zurück. Als er hört, dass die Nazis Leute für den Aufbau des neuen Lagers in Płaszów suchen und dafür keine Kennkarte notwendig ist, meldet er sich zum „Barackenbau“ und wird prompt bereits beim Bau der ersten Baracken an der Straße nach Wieliczka eingesetzt. Anfangs kehren er und seine Kollegen, ein Trupp von fünfzig Männern, am Abend immer