Matthias Falke

Museumsschiff


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zur anderen. Das halbe Universum musste eingefaltet werden. Millionen Lichtjahre zur Dicke eines Blattes gekrümmt werden, um sie durchstoßen zu können.

      Jennifer legte die Hand auf meinen Unterarm.

      »Es ist vorbei«, sagte sie, weit davon entfernt, das Eintreffen ihrer Vorhersage als Triumph zu empfinden.

      Einige Plätze weiter erhob Wiszewsky sich von seinem gravimetrischen Polster. Langsam und würdevoll schritt er die Stufen der Tribüne herab. Er war ein König, der seinem Oberfeuerwerker jovial verzieh, dass das bestellte Spektakel ausgefallen war.

      »Verdammte Scheiße«, hörte ich Dr. Rogers vor sich hinknurren.

      Wir standen ebenfalls auf und begaben uns zu den Kameraden, die ein Bild des Jammers boten. Reynolds starrte noch immer auf seine Monitore und Konsolen. Die Uhr, die die seit dem Absprung verstrichene Zeit anzeigte, stand bei 13 Minuten 37, als ich ihm die Hand auf die Schulter legte. Er zuckte zusammen, nahm die Augen aber nicht von seinen Instrumenten. Seine Hand zitterte ein wenig. Sein Gesicht war eine aus morschem Holz geschnitzte Fratze.

      Zwei Schritte weiter schlossen Jill und Jennifer sich in die Arme und klopften sich gegenseitig tröstend auf den Rücken. Wiszewsky hatte sich zu Frankel begeben.

      »Sie trifft keine Schuld«, sagte er huldvoll. »Ich bin überzeugt, dass Sie das Menschenmögliche versucht haben. Wir werden genau analysieren, woran ...«

      »Ich habe es gleich gesagt«, zischte Frankel, der das »Sie« auf sich persönlich bezogen hatte und nicht auf die Gruppe der Wissenschaftler. Mit giftigem Blick sah er zu uns herüber. »Vier Wochen Arbeit für die Katz’. Wir könnten schon fertig sein, wenn wir uns gleich für eine Neukonstruktion entschlossen hätten!«

      Svetlana kicherte albern.

      »Diese Leute können nur zanken«, sagte sie, an Wiszewskys Arm hängend. »Und wenn ihre Experimente schief gehen, will es keiner gewesen sein.«

      In diesem Augenblick schaltete Reynolds mit einer ruckartigen Bewegung sein Bedienfeld ab. Er schob mich beiseite, der ich noch immer in solidarischer Absicht neben ihm stand, und wandte sich Frankel, Rogers und Wiszewsky zu, die eine verschwörerische Gruppe bildeten.

      »Commodore«, sagte er mit fester Stimme. »Ich übernehme die volle Verantwortung für diesen Fehlversuch. Meine Annahmen und Berechnungen haben sich als irrig erwiesen.«

      Ich fing Dr. Rogers’ Blick auf, in dem ich männliche Anerkennung las, während Frankels Miene sich zu einem kleinlichen Grinsen verzog. Wiszewsky sah zerstreut über die Aufbauten und die Masse der Techniker, die auf seine Antwort warteten.

      »Ist gut, WO«, sagte er endlich. Und mit einem missratenen Lächeln setzte er hinzu: »Nehmen Sie sich’s nicht zu Herzen.« Er suchte Svetlanas Arm, die sich bei ihm einhängte und in deren Augenwinkel offene Schadenfreude glitzerte. Wiszewsky dagegen strahlte noch immer Unschlüssigkeit aus. »Um siebzehn Uhr zur Besprechung in der Großen Messe«, sagte er, um seinem Abgang eine gewisse markige Würde zu geben. Dann entfernte er sich zur Schleusenkammer.

      Die Wissenschaftler und Mechaniker zerstreuten sich. Das Hangartor wurde geschlossen. Der Kran fuhr selbsttätig wieder zu seiner Ausgangsposition zurück. Wir blieben neben einem versteinerten Reynolds zurück. Jill und Jennifer musterten ihn mit besorgten Mienen. Ich klopfte ihm auf die Schulter.

      »Kommen Sie«, sagte ich in der Attitüde eines großen Bruders. »Niemand macht Ihnen Vorwürfe.«

      Er ließ sich auf einen Sessel nieder, der am Rand des abgesperrten Bereichs stand, und schlug die Hände vor das Gesicht.

      »Ich will es ja nur verstehen«, murmelte er.

      Jennifer ging vor ihm in die Hocke und berührte ihn am Arm.

      »Legen Sie sich für ein paar Stunden hin«, sagte sie. »Die Daten werden ausgewertet, alles Weitere findet sich.«

      Er seufzte. Als er aufsah, war er nur noch ein kleiner Junge, der sich anstrengte, nicht in Tränen auszubrechen.

      »Ich danke euch«, schniefte er. In diesem Augenblick wurde uns bewusst, dass nur noch die Crew der ENTHYMESIS anwesend war. Alle anderen hatten sich entfernt. Das Kleine Drohnendeck lag im indirekten Licht der gelben Plasmalampen. Einige Serviceroboter fuhren herum und beseitigten die Überreste des gescheiterten Experimentes. »Und jetzt lasst mich einfach allein, bitte.«

      Die nächsten Wochen vergingen in quälenden Debatten. In der Kleinen und der Großen Messe, in versammelter Mannschaft oder unter vier Augen wurde über das weitere Vorgehen beratschlagt. Einige Mitglieder des wissenschaftlichen Teams hatten die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, dass die abgängige Sonde wieder auftauchen würde. Vielleicht hatte man sich bei der Berechnung des Rückkehrtermins einfach um die eine oder andere Zehnerpotenz vertan. Oder die Einstein-Krümmung der Raumzeit wies Faktoren auf, die man falsch einkalkuliert hatte, da sie sich bisher der empirischen Untersuchung entzogen hatten.

      Aber als auch der zweite und der dritte Tag nach dem fehlgeschlagenen Versuch verstrichen war, verringerte sich die Zahl derjenigen, die die Rückkehr der Sonde wie die Wiederkehr des Messias als unmittelbar in Aussicht stehendes Ereignis ankündigten. Die Diskussionen wurden ruhiger. Die Gesichter wurden länger, der Tonfall der Gespräche wurde sonorer. Reynolds hatte derartige absurde Hoffnungen nie gehegt. Ihm war klar, wenn die vorausberechnete Rückkehrzeit um eine Minute verstrichen war, dann konnte sie auch um Millionen Jahre verstreichen.

      Das gleiche galt für die ins Kraut schießenden Spekulationen über die Ursache der ausgebliebenen Wiederkehr. Die Sonde konnte im Saturn-Orbit in einen Meteoritenschauer geraten sein. Sie konnte von einer sinesischen Patrouille abgefangen worden sein. Es konnte buchstäblich alles mögliche geschehen sein. Ein Menschenleben reicht nicht aus, die Eventualitäten zu ersinnen, die hatten auftreten können. Wir verfügten über keinerlei Daten.

      Dennoch wucherten die Theorien und Hypothesen. Dass das auch Frontenbildungen und neuentstehende Parteiungen mit sich brachte, lag in der menschlichen Natur. Die Untätigkeit führte dazu, dass eine sachliche Diskussion unmöglich wurde. Geheimdiplomatie war angesagt. Schon vor dem Experiment hatten sich Fraktionen gebildet, Lager hatten sich kristallisiert, die sich innerhalb der amorphen Masse der wissenschaftlichen Abteilungen abschnürten wie Zellkulturen in einer übersättigten Nährlösung. Aber der bevorstehende Versuch und die bis dahin zu bewältigenden Arbeitspensen hatten die Parteien noch zusammengezwungen. Jetzt, da das Experiment gescheitert war, brachen die Konflikte offen aus, und es mangelte nicht an Schuldzuweisungen.

      WO Reynolds brachte alles an menschlicher Größe auf, dessen er fähig war, und übernahm ein ums andere Mal die Verantwortung für den Fehlschlag. Obwohl er, wie er mir anvertraute, keineswegs davon überzeugt war, dass sein Weg sich prinzipiell als falsch herausgestellt hatte, gestand er öffentlich sein vollständiges Scheitern ein. Er führte im Geheimen immer noch Berechnungen durch und suchte seine Reprogrammierung der Sonde nach internen Fehlern ab, aber nach außen hin tat er so, als habe er sich mit seinem Irrtum abgefunden.

      Frankel musste nun zugeben, dass er außer der Idee nichts in der Hand hatte. Eilig wurden neue Kommissionen ins Leben gerufen, die damit betraut wurden, das mathematische Gerüst für eine Umrüstung zu erstellen. und die bittere Ironie unserer Situation wollte es nicht anders, als dass Reynolds mit der Leitung dieser Arbeitsgruppe beauftragt wurde, da weder Frankel selbst noch ein anderes Mitglied seines Stabes in der Materie beschlagen genug waren, die nötigen Berechnungen durchzuführen.

      Reynolds schickte sich darein. Er würde auch zum zweiten und zum dritten Mal stürzen und sein Kreuz immer wieder aufnehmen. Er schlich durch die Gänge des wissenschaftlichen Traktes wie ein Schmerzensmann, verbrachte die regelmäßigen Besprechungen schweigsam und die Mahlzeiten allein, über ein MasterBoard gebeugt, an dem er die endlosen Operationen der selbstprogrammierenden mathematischen Tools überwachte. Er konnte einem leid tun, aber wenn man ihm einen aufmunternden Blick, ein tröstendes Wort oder ein kameradschaftliches Schulterklopfen zukommen ließ, winkte er nur ab und vergrub sich noch tiefer in seinen Arbeitseifer.

      Währenddessen wuchs Reynolds von unerwarteter Seite ein tatkräftiger Verbündeter