sich nicht. Ihr Oberkörper scheint völlig verkrampft zu sein. Und ihre Augen – wenn ich mich bewege, folgen sie mir nicht. Ihr Blick bleibt völlig starr nach oben gerichtet. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Sie wird doch nicht … Was habe ich getan?
Ich lasse ihre Hand los, ergreife ihre Schultern, rüttle heftig an ihnen und rufe: «Nein!»
«O das ist gut!», krächzt der Papagei. «Das ist gut.»
Ich ohrfeige sie. Noch einmal und noch einmal. «Nein!»
«Geh jetzt!», krächzt der Papagei. «Geh jetzt!»
«Pst!» Ich muss nachdenken. Noch mehr Ohrfeigen werden nicht helfen. Es ist vorbei.
Sie starrt nach oben. So als wäre ich gar nicht hier. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte heute nicht ihre Wohnung betreten, um mit ihr zu sprechen. Doch ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Nichts ungeschehen machen. Was habe ich getan? Ich wollte doch nur, dass sie mir zuhört. Nun liegt sie da mit der Verzweiflung im Blick. Ansonsten sieht sie so zart wie ein zerbrechliches Stück Porzellan aus. Dabei ist sie die Sünderin. Nicht ich bin schuld. Ich wollte nur mit ihr sprechen.
Was nun? Soll ich die Polizei rufen? Wird mir jemand glauben, dass ich nichts Böses vorhatte? Nein. Hier stehe ich, und sie liegt da. Tot. Niemand wird mich verstehen. Niemand wird mir zuhören. Wenn die Polizei kommt, wird sie an einen Mord glauben. Vielleicht ist das die Lösung. Ich gebe den Herren, was sie wollen. Einen Mord. Da kommen viele als Täter infrage.
Also los. Zuerst das Bett. Ich reiße Decke und Kissen aus dem Bezug. Es soll so aussehen, als seien hier die Fetzen geflogen. Können die Polizisten irgendwo meine Fingerabdrücke finden? Ach was, bestimmt sind in der ganzen Wohnung Fingerabdrücke von Dutzenden Männern verteilt. Also was soll’s!
Als Nächstes ziehe ich sie aus. Das Hemdchen, den viel zu kurzen Rock, das bisschen Stoff, das ihre Scham kaum bedeckt. Nun trägt sie ihre Berufsbekleidung: nichts. Ich werfe die Kleidung in den brennenden Ofen.
«Das ist gut!», ruft der Papagei wieder.
Ich öffne die Tür des Käfigs. Wenn ich weg bin, kommt das Vieh hoffentlich heraus und macht noch ein bisschen zusätzliche Unordnung. Apropos Unordnung. Ich reiße die Kommode und den Tisch um. Plunder ergießt sich über den Boden. Mit ein paar Tritten verteile ich das Zeug im Zimmer. Ein paar Bücher rutschen unter das Bett. Ich bücke mich, gucke ihnen hinterher und entdecke einen Koffer. Den kann ich auch noch ausschütten. Ich ziehe den Koffer unter dem Bett hervor und öffne ihn.
O mein Gott, der Koffer ist voller Banknoten! Zehner, Zwanziger, Fünfziger, auch Hunderter. Wie viel Geld kann das sein? Zehntausend Mark? Oder hunderttausend? Keine Ahnung. Das zähle ich zu Hause nach.
Ich blicke mich um. Vor dem Bett liegt ein Taschenkalender. Ich öffne ihn und blättere zum heutigen Datum. Den Eintrag soll niemand finden. Ich reiße ein paar Seiten heraus.
«Geh jetzt!», krächzt der Papagei.
Er hat recht.
EINS
Freitag, 22. März 1968
DIE BEIDEN KERLE grinsten wie Clowns. Josef Bolp beobachtete die zwei Kommunarden auf der Anklagebank und merkte, wie Wut in ihm aufstieg. Guntram Lauterbach lümmelte auf einem Sitz und zwirbelte mit zwei Fingern seine Locken. Hans Trenker saß daneben, hielt den Daumen seiner rechten Hand an die Nase und spielte Pinocchio. Bolp war vor Zorn kaum in der Lage, ein vernünftiges Wort auf seinem Block zu notieren. Dabei musste er die wesentlichen Aussagen des Richters für seinen Artikel vermerken.
«Zwar waren die Flugblätter mit Sicherheit geeignet, von einer unbestimmten Vielzahl unbefangener Leser als Aufforderung zur Brandstiftung in Kaufhäusern während der üblichen Öffnungszeiten aufgefasst zu werden …», erklärte der Richter.
Bolp machte sich Stichpunkte und rekapitulierte die Taten der beiden Angeklagten in Gedanken. Natürlich hatte das verbrecherische Studentenpack zu Brandanschlägen aufgerufen, da gab es für ihn keinen Zweifel. In Brüssel war im vergangenen Jahr tatsächlich ein Kaufhaus in Flammen aufgegangen. Danach hatte diese Berliner Bande eine Serie von Flugblättern gedruckt und getönt, dass die belgischen Freunde sehr wohl wüssten, wie die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam zu beteiligen sei. Heute müsse niemand mehr den Gräueltaten an dem armen vietnamesischen Volk tatenlos zusehen, man könne sich einfach eine Zigarette in einer Umkleidekabine im KaDe We, bei Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann anzünden.
Bolp fragte sich, was an diesen Aussagen missverstanden werden konnte. Seiner Meinung nach war das eine genaue Handlungsanweisung für Brandstifter. Die Verbrecher auf der Anklagebank hatten die aufrührerischen Flugblätter verfasst und unters Volk gebracht. Wer wusste schon, wie viele Chaoten inzwischen in Berlin herumliefen und nur auf eine passende Gelegenheit warteten, einen Brand zu legen! Doch die Aufwiegler feixten auf der Anklagebank, als hätten sie Lachgas inhaliert.
Bolp richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Richter, der gerade seine Ausführungen schloss: «… dass sie jedoch auch wollten oder nur billigend in Kauf nahmen, dass der Leser der hierzu geeigneten Flugblätter einen Entschluss zur Begehung von Brandstiftungen fasste, war den Angeklagten nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachzuweisen.»
Der arme Mann gab sich alle Mühe, bei seinem Vortrag Würde auszustrahlen. Seine Worte wurden jedoch immer wieder von Kommentaren aus dem Zuschauerraum unterbrochen. «Bravo!», «Recht so!», riefen die Studenten, und obendrein johlten sie, als wären sie in einem Kabarett und nicht in einem Gerichtssaal. Wenn der Richter sie zur Ruhe mahnte, hielten sie für einen Moment inne, nur um ihn Augenblicke später wieder auszulachen.
Schon von Prozessbeginn an hatte das Studentenpack das Gericht verhöhnt. Bolp erinnerte sich daran, dass Trenker die Anklageschrift abgetippt und dem Richter als Satire für zwei Mark zum Kauf angeboten hatte. Er dachte auch an die albernen Verkleidungen, die die Angeklagten damals getragen hatten, die Fräcke, die bunten Popelinehosen – dagegen sahen Lauterbach und Trenker heute beinahe wie normale Menschen aus, von den ungekämmten Haaren einmal abgesehen. Ein Psychiater hatte Lauterbach sogar bescheinigt, er kompensiere seinen schwachen Bartwuchs durch übertrieben langes Haupthaar. Vielleicht hatte der Doktor da ein wenig übertrieben, doch an der ebenfalls diagnostizierten Abnormität der Persönlichkeit gab es für Bolp keinen Zweifel. Immerhin durften die beiden Gammler für ihr unflätiges Verhalten mehrere Ordnungshaftstrafen absitzen. Das freilich hatte Lauterbach und Trenker nur provoziert, den Psychiater zu fragen, welche Therapie er für den Richter empfehle, da dieser zwanghaft Ordnungsstrafen verhänge. Bolp kochte innerlich vor Wut bei der Erinnerung daran.
«Möglicherweise haben die Angeklagten nur bewusst fahrlässig gehandelt. Für eine Bestrafung aber ist zumindest ein bedingter Vorsatz erforderlich», fuhr der Richter fort. Damit sprach er die Angeklagten frei und erklärte das Verfahren für beendet. Die Studenten jubelten wie bei einem Rockkonzert. Es fehlt nur noch, dass diese Rotznasen «Zugabe» rufen, dachte Bolp.
Der Reporter war froh, dass er kein Jurist war und keinem Gericht vorstand. So musste er sich nicht mit solchen Kleinlichkeiten wie dem Unterschied zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz herumschlagen. Er konnte diesen Kriminellen in seinem Artikel für den Berliner Blitz die Attribute verpassten, die sie verdienten. Und das würde er in der morgigen Ausgabe auch tun.
Kriminaloberkommissar Otto Kappe stieg aus dem Auto und sah auf die Uhr: 13.30. Und das am Freitagnachmittag! Ein Mord so kurz vor dem Wochenende hatte ihm gerade noch gefehlt. Auch sein Assistent Hans-Gert Galgenberg machte ein Gesicht wie nach drei Tagen Regenwetter. Dabei roch die Luft nach Frühling. Kappe warf einen Blick auf das kleine Ladenlokal in der Hobrechtstraße, vor dem ihr Wagen parkte. Karlheinz Efferts stand in großen Lettern über dem Schaufenster. Eigentlich hatte Kappe sich längst auf den Freitagseinkauf vorbereitet, aber Mörder hielten sich leider nicht an den Wochenrhythmus eines Familienoberhauptes.
Kappe und Galgenberg traten in den Hausflur und hörten schon von hier den Lärm im Obergeschoss – offenbar