Uwe Schimunek

Rotlicht


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zu Hause und auch nicht telefonisch zu erreichen.» Otto seufzte. «Wenn wir nicht morgen früh zu ihm fahren, erfährt der arme Kerl noch aus der Zeitung von dem Tod seiner Schwester.»

      Gertrud entgegnete nichts, sondern deckte stattdessen auch die Kasserolle mit dem Braten ab.

      «Es ist wieder so eine schreckliche Tat!», sagte Otto. Er redete nicht allzu oft mit seiner Frau über die Arbeit, doch manche Fälle nahmen ihn so sehr mit, dass er seine Gedanken mitteilen musste. Also fuhr er fort: «Wir haben heute eine Prostituierte erstickt in ihrem Bett gefunden. Seit Tagen lag sie tot dort, sagt unser Gerichtsmediziner. Sie war höchstens Mitte zwanzig, kaum älter als Peter. Ich frage mich bei so jungen Opfern immer, wie sie auf die schiefe Bahn geraten sind.»

      «Das wirst du auch in diesem Fall herausfinden.»

      «Bestimmt.» Otto strich sich über den Bauch. Wie immer nach dem warmen Essen am Freitagabend fühlte er sich müde. Er gähnte und sprach dann weiter: «Die junge Frau sah gar nicht aus wie eine … Nutte.» Er verwendete das ordinäre Wort absichtlich, damit Gertrud aufhorchte.

      Tatsächlich setzte die sich neben ihn an den Tisch und fragte: «Wie sieht denn eine …», sie lächelte spitz, bevor sie weitersprach, «… Nutte normalerweise aus?»

      «Ich weiß es auch nicht so genau. Schließlich bin ich ja nicht bei der Sitte. Das Opfer habe ich erst als Leiche gesehen. Aber ihre Wohnung …» Otto hielt einen Augenblick inne und dachte nach. «Sie war zwar verwüstet. Aber die Möbel … Alles sah so normal aus. Gutbürgerlich. Die Frau hatte sogar einen Papagei.»

      «Einen Papagei?» Gertrud klang ratlos. «Was wird nun aus dem armen Tier?»

      «Der Papagei kommt erst einmal bei der Nachbarin unter. Alles Weitere muss der Bruder entscheiden.»

      «Hat die junge Frau denn keine Eltern?»

      «Die sind offenbar tot. Mehr wissen wir noch nicht.»

      Gertrud hob zu einer Antwort an, doch die Türklingel kam ihr zuvor. «Da ist er!», rief sie, während sie schon zur Wohnungstür eilte.

      Otto sah ihr nach. Für das Familienessen hatte sie das feine Kleid angezogen. Niemals ließ sie sich selbst eine Nachlässigkeit durchgehen. Doch dem Jungen verzieh sie alles, seitdem er ausgezogen war. Bestimmt würde sie nicht einmal erwähnen, wie sehr er sich verspätet hatte. Otto hörte Gertrud im Flur mit Peter reden, doch die Worte verstand er nicht. Es klang jedenfalls nicht so, als würde sich Peter für seine Verspätung entschuldigen.

      Gertrud betrat mit ihrem Sohn die Küche und strahlte vor guter Laune. Im Plauderton sagte sie: «Setz dich doch, Peter. Das Essen müsste noch warm sein. Ich tue dir etwas auf und gebe deinem Vater auch noch einen kleinen Nachschlag. Du kannst dich ja so lange mit ihm unterhalten. Er muss nämlich seit heute Nachmittag den Mord an einer Prostituierten untersuchen. Das ist doch beinahe dein Forschungsgebiet.»

      «Mit den Auswirkungen der Prostitution auf die Beteiligten befasst sich natürlich in erster Linie mein Professor», erwiderte Peter und setzte sich.

      «Mit Morden wird sich der Herr Professor sicher weniger beschäftigen», sagte Otto und winkte ab. Er verspürte nur wenig Lust, sich von seinem Sohn nach dessen üppiger Verspätung auch noch Vorträge anzuhören.

      «Da hast du recht, Vater. Außerdem konzentriert er sich aus meiner Sicht viel zu sehr auf die Einzelfälle und verliert dabei die gesellschaftliche Perspektive aus dem Blick. Schließlich ist die Prostitution nicht zuletzt ein Symbol für die patriarchalischen Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus im Allgemeinen und die Unterdrückung der Frauen im Besonderen.»

      «Was?» Otto fuhr in die Höhe. «Du klingst ja wie einer von drüben.» Er zeigte in die Richtung der Anrichte. Dort war doch Osten, oder?

      «Ach, das ist nur das Studium!», sagte Gertrud leichthin. «Da reden die jungen Leute heute so.»

      «Die Kommunisten von diesem Sozialistischen Deutschen Studentenbund», murmelte Otto zerknirscht.

      «Die haben vielleicht auch mit vielem recht», sagte Peter ruhig.

      «Die müssen vor allem immer das letzte Wort haben.» Otto schlug mit der Hand auf den Tisch.

      «Ihr hört damit auf! Sofort!» Gertrud hatte nicht laut gesprochen, trotzdem herrschte sofort Ruhe am Tisch.

      Otto schaute zu seinem Sohn. Peter blickte seine Mutter bedröppelt an, so als hätte sie ihn beim Stibitzen von Süßigkeiten erwischt. Otto verspürte für einen Moment Genugtuung, dann merkte er, dass er vermutlich genauso aussah.

      Gertrud schob die gefüllten Teller zu Otto und Peter. «Jetzt wird gegessen und nicht gestritten. Guten Appetit!»

       ZWEI

       Sonnabend, 23. März 1968

      VON DEN 250 KILOMETERN bis ins Wendland hatten sie gerade einmal ein Viertel geschafft, und Peter Kappe hatte schon jetzt Schmerzen im Rücken. Beinahe im Sekundentakt fuhr der Käfer über eine der Nähte zwischen den Autobahnplatten. Wenn die Stöße schon in seinem Kreuz Schmerzen verursachten, wie sollte es dann erst seinem Großonkel Hermann ergehen? Der alte Herr hatte Peter gebeten, ihn in einem geliehenen Auto in die niedersächsische Provinz zu chauffieren, wo er sich nach einem Häuschen umschauen wollte. Er und seine Frau hatten beschlossen, ihren Lebensabend am Gümser See zu verbringen.

      Peter sah zum Beifahrersitz, sein Großonkel schien bestens gelaunt zu sein. Er schaute aus dem Fenster auf die weiten Felder im Brandenburgischen.

      An diesem Sonnabendmorgen war kaum jemand unterwegs. Sie hatten die Stadt schon bei Sonnenaufgang verlassen. Die Kontrollen an den Zonengrenzen, die Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen, der Zustand der alten Straßen – ihre Reise würde den gesamten Tag beanspruchen.

      «Was macht das Studium?», fragte Hermann.

      «Ich bin wohl nächstes Jahr fertig.» Peter überlegte, was der Großonkel darüber hinaus hören wollte. «Ich denke darüber nach, ob ich mich danach um eine Doktorandenstelle bemühe.»

      «Hm», brummte Hermann so leise, dass es beinahe im Motorengeräusch unterging. Für einen Moment schwieg er, dann fügte er hinzu: «Die Uni scheint mir derzeit ein heikler Ort für junge Menschen zu sein.»

      Peter entgegnete nichts. Er merkte, dass seinem Großonkel etwas auf der Seele brannte. Also wartete er.

      «Dein Vater hat mir erzählt, dass du in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund eintreten willst», sagte Hermann so langsam, als wollten die Worte nicht über seine Lippen kommen. «Er ist gar nicht glücklich darüber. Außerdem macht er sich Sorgen, weil du mit den Leuten aus der Kommune I verkehrst.»

      «Was ist denn so schlimm daran?», fragte Peter, ohne den Blick von der Autobahn zu wenden.

      «Was daran so schlimm ist?», echote der Alte. «Glaubst du, die lassen solche Leute in den Staatsdienst? Was denkst du, wer an den wichtigen Stellen in der Universität sitzt?» Hermann schnaufte und hob den Zeigefinger. Nun sprach er lauter. «Abgesehen davon, könnte auch dein Vater Ärger bekommen. Er ist Beamter.»

      «Ich denke, die Sippenhaft ist abgeschafft?», entgegnete Peter ebenso laut.

      Das folgende Schweigen ging im Motorengeräusch unter. Peter konzentrierte sich auf die Fahrbahn, zählte die Leitpfosten neben der Spur. Eins, zwei, drei …

      «Schau lieber mal beim Sozialdemokratischen Hochschulbund vorbei», riet ihm Hermann. «Dem SHB gehören alle an, die später einmal in der SPD was werden wollen. Und ohne Parteibuch kannst du in West-Berlin gleich einpacken.»

      «Bei der SPD fällt mir nur Lenin ein», sagte Peter.

      «Lenin?», fragte Hermann, und es klang wie: Was willst du denn mit dem alten Knilch?

      «Der hat doch gesagt: Wenn die Sozialdemokraten Revolution machen und einen Bahnhof stürmen wollen, dann kaufen