geradezu als Mangel empfinden, daß sich der junge Schwärmer nie von Deutschlands innerer und äußerer Not im Tiefsten erschüttert, nie zu befreienden Taten hingerissen zeigt – doch entspricht dies durchaus dem Charakter einer Zeit, die Deutsche an der Seite Napoleons gegen Deutsche kämpfen sah, entspricht vor allem auch dem Wesen des damaligen Kleinbürgers, dem es ziemlich gleichgültig war, wer oben regierte, wenn nur das eigene Sein und Behagen unangetastet blieb. Nichts kann die natürliche Wahrhaftigkeit des Verfassers besser kennzeichnen als die Tatsache, daß er in seinem Erinnerungsbuche niemals den leisesten Versuch macht, die Denkart seiner Jünglingsjahre in deutschem Sinne umzufärben, obwohl er inzwischen den Niederbruch Frankreichs und den Wiederaufstieg deutschen Geistes erlebt hat. –
Christian Wilhelm Bechstedt starb im Jahre 1867 zu Langensalza als Bäckermeister in dem Hause, worin schon sein Urgroßvater (geb. 1674, gest. 1747) das gleiche Handwerk betrieb und heute noch ein Enkel es fortsetzt. Von einem Gedrucktwerden seiner Aufzeichnungen hat sich der ehrsame Handwerksmeister wohl nie träumen lassen; dafür spricht schon der rückhaltlose Freimut, womit er über seine mannigfachen Liebesabenteuer berichtet. –
Erst nach langem Zögern haben seine Nachfahren den dankenswerten Entschluß gefaßt, den sorglich gehüteten Familienschatz der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Sie gingen dabei mit Recht von der Erwägung aus, daß es um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts in Adels- und vornehmen Bürgerkreisen der Memoirenschreiber genug gab, die von ihrer Denk- und Lebensweise Kunde wahrten, dagegen handschriftliche Zeugnisse aus der Welt des kleinen Mannes höchst spärlich vorhanden sind. Wo sonst hätte ein wandernder Handwerksbursche viele Jahre hindurch ein Tagebuch geführt und es später zu solchem Erinnerungswerk ausgebaut, wie es hier vorliegt?!
Eine gewisse Gunst der Umstände ermöglichte es diesem lebhaften und liebenswürdigen, stets aufnahmebereiten und mitteilsamen Geiste, sich eine Bildung zu erwerben, die weit über seinen Stand hinausging – die aber Voraussetzung war für die Abfassung einer solchen Schrift. Der Schreiber selbst ist sich seiner erhöhten Genuß- und Urteilskraft mit Genugtuung, doch ohne Überheblichkeit bewußt; stets spricht aus seinen Aufzeichnungen der im Grunde schlichte Mann, der das vererbte und erlernte Handwerk mit Lust und Liebe ausübt und fest in dem Boden wurzelt, worauf er steht. Schade, wenn die einzigartige Urkunde, die er hinterließ, im Familienschrein vermodert wäre! –
Meine Aufgabe war es, die breite Behaglichkeit der Erzählung hier und da zum Vorteil des Ganzen zu kürzen, ohne Wesentliches auszuschalten. Die alte, unser Auge störende Rechtschreibung habe ich durchgängig nicht übernommen; die Echtheit des Buches ist so unzweifelhaft, daß sie durch solche Äußerlichkeiten nicht bewiesen zu werden braucht.
Potsdam, im März 1925 Charlotte Francke-Roesing
Langensalza, April 1859
Heute nehme ich mir vor, für meine Kinder
und Enkel die Erlebnisse meiner Wander-
jahre aufzuschreiben. Ich werde alles, worauf
ich mich noch besinnen kann, so genau wie
möglich angeben. Man hat ja nicht immer
Lust zum Schreiben; wenn mir aber der liebe
Gott noch eine Reihe Jahre das Leben
schenkt, so wird dies Buch wohl fertig
werden.
C. W. Bechstedt
Kartenausschnitt: Die Königreiche von Sachsen und Westphalen 1808. (Reprint im Verlag Rockstuhl).
Langensalza gehörte damals zu Sachsen. Nach der Frage, woher er komme, sagte Christian Wilhelm Bechstedt immer: „Ich komme aus Langensalza in Sachsen“. Mit der Neugliederung der preußischen Monarchie nach Napoleons Niederlage kam Langensalza 1816 zu Preußen.
Vorweg einen kurzen Bericht
über meine Jugendjahre bis zur
Wanderschaft
Ursprung und Zusammenhänge –
Die Lateinschule – Großfeuer – Singstunde –
Der erste Schmerz, Lehre und Gesellen würde –
Erfurt und die große Glocke – Ein Brandstifter
wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt –
Die Tanzstunde und ihre Folgen –
Zur Welt gekommen bin ich in Langensalza am 4. September 1787. Meine Paten waren: Herr Hutters, Herr Miller und die Frau Bertlingen. Getauft hat mich der Magister Kranigfeld in der Bergkirche und dabei gesagt: „Ei, ei, ei! der Junge soll drei Tage alt sein? Das ist ja ein Kerl wie von sechs Wochen.“
Als ich ungefähr zwei Jahre alt war, starb mein Großvater Bechstedt im Alter von vierundachtzig Jahren. Während er an einem Butterbrote gegessen, hat ihn eine Art Schlagfluß getroffen und ist auch sobald tot geblieben. Er ist ein kleiner, etwas sonderbarer Mann gewesen, hat gern gelesen und geschrieben; es sind jetzt noch Schriften von ihm vorhanden. Ihm hat einmal geträumt, daß er an einem Baum hinauf in den Himmel geklettert sei. Die Schönheiten, die er da gesehen, hat er nicht genug beschreiben können. Petrus aber hat den Eindringling nicht eher wieder aus dem himmlischen Paradies hinausgebracht, als bis er ihm versprochen hatte, er solle ganz gewiß wieder hineinkommen, doch müsse er zuvor auf der Erde noch seine bestimmte Zeit leben. Da ist mein Großvater denn friedlich den Baum hinabgerutscht und aufgewacht.
Von diesem Traum muß etwas in seinem Gemüte sitzen geblieben sein. Meine Mutter erzählte manchmal, wie gleichgültig er den Verlust irdischer Güter aufgenommen habe. Auch hat er sich mit einigen anderen alten Bäckermeistern beim Spazierengehen um die Stadt zuweilen so verplaudert, daß sie in Jacken, Schürzen und Pantoffeln nach Gotha, auch nach Arnstadt zum Weizenbier gegangen sind, ohne zu Hause etwas davon zu sagen.
Der Vater meines Großvaters Bechstedt ist 1711 beim großen Brande in einem Backhaus hinter dem Rathause mit abgebrannt und sein Großvater (mein Ururgroßvater Bechstedt) ist Fuhrmann gewesen und hat in der Milchgasse gewohnt.
Meiner Mutter Vater (mein Großvater Scholl) war Böttchermeister. Ihm gehörte das Haus unter dem Berge, was jetzt der alte Schützenhaus-Vogelmacher, Wilhelm Bechstedt, zu eigen hat, dessen Ururgroßvater auch der Fuhrmann in der Milchgasse gewesen ist. Meine Mutter und der Pastor Scholl in Ufhoven, die beiden Kinder von Großvater Scholl, stammten aus seiner ersten Ehe. Er starb, als ich sechs Jahre alt war.
Mein Großvater Bechstedt hat noch einen Bruder gehabt; den haben die Preußen im Siebenjährigen Kriege par force zum Soldaten gemacht. Er ist ein äußerst geschickter, lebhafter Bursche gewesen und bald Unteroffizier geworden. Bei einem Scharmützel zeichnete er sich aus und wurde zum Husarenleutnant ernannt. Nach dem Kriege hat er um eine Zivilstelle angehalten, als Obereinnehmer in Halberstadt gelebt, geheiratet und einen Sohn und eine Tochter hinterlassen. Diese Tochter hat den Amtmann Bär geehelicht, welcher sich im Sommer 1800 vom Langensalzer Magistrat Auskunft erbat über die Verwandtschaft seiner Frau. Mein Vater nahm den Brief an sich und beantwortete ihn, worauf die Verwandten ihren Besuch ankündigten.
Daraus wurde indes vorerst nichts; mein Vater starb im Dezember desselben Jahres. Erst im Jahre 1804 kamen die Amtmann Bärs mit ihren zwei kleinen Jungen nach Langensalza und wohnten im Hause am Berge bei Vetter Wiegand – nach meinem Vater der nächste Verwandte, der ein Haus besaß. Sie blieben vierzehn Tage hier, waren vielmal zu Gast bei meiner Mutter und meine erste Ausflucht in die Welt ging zu ihnen, worauf ich später zurückkommen will.
Mein Vater und meine Mutter standen fast in gleichem Alter; beide sind 1753 geboren. Meines Vaters einzige Schwester war die Frau Köhler in der Treisch-mühle.
Meinen Eltern wurden sechs Kinder geschenkt, von denen zwei in jungen Jahren unverehelicht gestorben sind. Die anderen führe ich hier auf:
1 Katharina Sophie, geb. 1785, die jetzige Frau Minor hier.
2 Meine