Engpässe lindern geholfen. Zusätzlich hatten Katharina und Frau Schimkus bis in die tiefe Nacht hinein kleine Schultüten gebastelt, damit jedes neue Schulkind eine kleine Aufmerksamkeit bekam.
Die Augen der Schüler leuchteten, als sie ihre Schultüten in Empfang nahmen und da war es gar nicht so wichtig, ob eine Schultüte groß oder klein war. Die Kinder der armen Leute waren Bescheidenheit seit ihrer Geburt gewohnt.
Nachdem die Kinder den Klassenraum betreten hatten, wollten die älteren Kinder ihre alten Plätze einnehmen, doch die neue Lehrerin hatte ihre eigene Sitzordnung aufgestellt.
An der Türseite saßen die Mädchen, damit sie leichter aus dem Klassenraum huschen konnten, falls sie mal dringend auf die Toilette mussten, an der Fensterseite saßen die Jungs.
Der Blick nach draußen wurde ihnen allerdings durch die hohen Fenstersimse erschwert.
In den vorderen Reihen saßen die Schulanfänger, die so ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Lehrerin richten konnten. Katharina war mit dieser Lösung zufrieden.
Nachdem der erste Schultag mit Vorlesen und Spielen zu Ende gegangen war, strömten die Kinder lautstark aus der Schule ins Freie. Und mindestens nach dem ersten Schultag waren sich alle Kinder noch einig, dass Schule eine tolle Sache ist.
Zufrieden verließ auch Katharina das Schulgebäude und freute sich auf das Mittagessen.
Frau Schimkus hatte ihr bereits am Morgen verraten, dass es zur Feier des ersten Schultages Königsberger Klopse geben würde, eines der bekanntesten Gerichte Ostpreußens mit zahlreichen Zutaten.
Der jungen Frau wurde gar nicht bewusst, dass sie, angetrieben von ihrem Appetit, auf den letzten Metern ihre Schritte immer mehr beschleunigte. Als sie die Küche betrat, duftete es bereits süß-sauer nach der herrlichen Speise.
Ein Sud aus Gemüsebrühe war mit Zwiebeln, Lorbeerblättern, Gewürznelken, ein paar Pfefferkörnern und Piment aufgekocht worden. Darin zogen für zwanzig Minuten aus Hackfleisch, Ei, Weißbrotteig, Petersilie, Salz, Pfeffer und etwas Senf vermengte Klopse gar, deren Königsberger Geheimnis gehackte Sardellen sind. Die durch ein Sieb geseihte Brühe wurde mit einer Mehlschwitze abgebunden. Dann wurde die Soße mit Senf, Sahne, Zitronensaft und Zucker verfeinert, dazu kamen noch Kapern, ein paar Butterflocken, zwei verquirlte Eigelb, die tropfenweise in die leicht köchelnde Soße gegeben wurden und zum Schluss, gehackte Petersilie. Anschließend zogen die Klopse noch ein paar Minuten in dieser Soße. Als Beilage wurden Salzkartoffeln gereicht.
Das Ergebnis war unvergleichlich.
Katharina beeilte sich, ihre Hände zu waschen und am Tisch Platz zu nehmen.
Die junge Lehrerin hatte sich den Unterricht nicht so schwierig vorgestellt. Die Kinder in der Stadt waren aufmerksamer, weil die Klassenstärken niedriger waren. Außerdem unterschied sich der Lehrstoff auf dem Land von dem in der Stadt und da hatte wiederum Katharina noch einiges dazu zu lernen.
Sie kannte viele Begriffe aus der Landwirtschaft nicht, oder wusste für verschiedene Dinge nicht die ostpreußischen Bezeichnungen. Außerdem verstand sie nichts von Viehzucht und als »Städterin« hatte sie natürlich keine Ahnung von Pferden, wo doch in Ostpreußen fast jedes Kind zugleich bereits ein Pferdenarr war. Die Trakehner waren in der ganzen Welt berühmt.
Trotzdem hatte sie schon nach wenigen Schultagen ihre ersten Pappenheimer erkannt, die entweder den Unterricht störten, in den Pausen Blödsinn machten oder ihre Hausaufgaben nicht erledigten. Es waren ausnahmslos Schüler der höheren Klassenstufe. Zudem hatte die junge Lehrerin das Gefühl, als wollten einige Schüler sie mit ihren Fragen auf die Probe stellen, doch Katharina wollte sich nicht so leicht geschlagen geben und paukte zu Hause in zahlreichen Fachbüchern.
Eines bereitete ihr aber doch ernste Sorgen. Täglich fehlten einige Schüler unentschuldigt. Es lag einfach daran, dass die Kinder ihren Müttern und Großeltern bei der Landwirtschaft oder im Haushalt helfen mussten, weil die Väter an der Front waren. Katharina nahm sich vor, mit den Müttern zu sprechen, bei deren Kindern dies besonders häufig vorkam.
Zunehmend richteten sich die Streiche einiger Laukse direkt gegen die neue Lehrerin, die abends sogar manchmal ein paar Tränen vergoss. Marie Schimkus bemerkte die Veränderung der jungen Frau und bot ihr an, sich bei ihr auszusprechen. Katharina wollte ihre Sorgen eigentlich für sich behalten, doch nach dem Angebot ihrer Wirtin war sie froh, ihr Herz ausschütten zu dürfen.
Die Witwe riet ihr, erst einmal die nahen Herbstferien abzuwarten und dann ihre Vorgehensweise zu entscheiden und sollte sich bis dahin kein Ergebnis einstellen, würde sie dann nach dem Sonntagsgottesdienst einmal mit dem Pfarrer sprechen. Er hatte auf die Frauen im Dorf einen gewissen Einfluss und würde ihnen dann schon eine »Predigt« halten. Außerdem könnte sie selbst ebenfalls mit den Müttern der größten Lorbasse reden, doch Katharina entschied sich, das Problem allein zu lösen.
Auch ihr Lehrerkollege nahm die mentalen Veränderungen seiner jungen Kollegin war und sprach sie eines Tages darauf an. Zunächst zögerte Katharina, ihrem Kollegen von ihren Sorgen zu berichten, doch schließlich fasste sie sich ein Herz.
Herr Graudenz fragte Katharina, wie denn die Bestrafungen der Übeltäter aussahen, die seine junge Kollegin durchführte.
»Na ja, so die allgemeinen Strafen halt«, antwortete Katharina zögernd, »Sonderaufgaben oder Nachsitzen. Aber die Strafaufgaben werden von den Schwerenötern so gut wie nie erledigt, und dem Nachsitzen entzogen sie sich oftmals durch Flucht.«
»Wissen Sie, liebe Kollegin, die Kinder haben einfach nicht genügend Respekt vor Ihnen. So lange Sie keinen Rohrstock auf ihren Hosenböden tanzen lassen, werden Sie die Rabauken nicht in den Griff bekommen. Ich sage es nicht gern, aber bei manchen Burschen hilft wirklich nur der Penter, das schreckt auch andere potentielle Missetäter ab, glauben sie es mir!«
Katharina konnte sich trotz dieses Ratschlages nicht dazu entschließen, sich so einen Rohrstock zu besorgen.
Ihr widerstrebte es, ihre Autorität mit Prügel durchzusetzen, doch nach immer derberen Streichen einiger besonders wilder Schüler war sie froh, als die Herbstferien begannen und ihr ein wenig Ruhe brachten.
Kurzfristig entschloss sie sich, ihre Eltern in Köln zu besuchen, und sie lud ihre Wirtin ein, sie zu begleiten. Nach kurzer Überlegung stimmte Frau Schimkus tatsächlich zu.
Ein paar Tage vor der geplanten Reise erreichte Katharina ein Brief vom Schulamt in Königsberg. Darin wurde ihr mitgeteilt, dass sie zu einem Lehrerkongress in Heiligenbeil eingeladen war. Bei jener Lehrerkonferenz sollten die Lehrer aus den anderen Landesteilen Deutschlands die Gelegenheit bekommen, sich gegenseitig kennenzulernen und mit der Unterrichtsweise in den ostpreußischen Schulen vertraut zu machen. Außerdem sollte der Arbeitsplan für die einzelnen Klassenstufen besprochen werden. Die Lehrerin freute sich auf diese Tagung, denn sie versprach sich von ihr Anregungen für ihre Arbeit.
Tatsächlich schloss sie einige interessante Bekanntschaften, tauschte Adressen mit Kolleginnen aus und war mit dem Ausgang dieser Tagung recht zufrieden. Katharina war erstaunt, wie viele Lehrer aus dem westlichen Teil Deutschlands dem Aufruf gefolgt waren, die Lücke der fehlenden Lehrkräfte in Ostpreußen zu schließen.
Bereits am ersten Tag versuchte ein junger Mann, mit Katharina anzubändeln, doch sie verstand es geschickt, den plumpen Annäherungsversuchen auszuweichen.
Da freundete sie sich lieber mit anderen Leuten an.
Da war zum Beispiel der schlaksige jungen Mann aus Westfalen, der einen viel zu weiten Anzug trug, aber unentwegt Witze erzählen konnte. Oder die kleine kesse Blondine aus Berlin, die heimlich auf der Toilette rauchte, oder der Hamburger, der abends beim Bier in dem kleinen Lokal am Markt am Klavier Seemannslieder sang, aber am nächsten Tag während des Kongresses immerzu einnickte. Oder aber auch die beiden Freundinnen aus München, die mit ihrem lustigen Dialekt die ganze Runde unterhielten und die Katharina im Flur der Gaststätte überraschte, als sie sich innig küssten, doch von ihr hatte niemand etwas darüber erfahren. Warum sollte eine Frau nicht eine andere Frau lieben, nur öffentlich zeigen durften sie es nicht, sonst drohte eine Anklage wegen Rassenschande.
Eines