Joachim Gerlach

SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten


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diesem Wetter allein hinaus aufs Meer zu fahren und den Fang, den ich und die meinen zum Leben brauchen, nach Hause zu bringen!«

      Die Antwort von Sion de Albanez war kühl und menschenverachtend gewesen.

      »Nichts da! Es werden Männer gebraucht und keine Knaben!«

      Sein harter Ton und seine versteinerte Miene hatten für augenblickliche Ruhe gesorgt.

      Wo aber die Männer wirklich gebraucht wurden, war auf dem Meer, auf den Gischt schäumenden Fluten, die sich durch den Levante, den tückischen, gerade in den Sommermonaten gefahrvoll anschwellenden Ostwind, türmten und der Küste mit wütender Macht entgegenbrandeten. Niemand aber hatte es gewagt, Sion de Albanez entgegen zu treten oder zu versuchen, sich beim alten Marqués Gehör zu verschaffen.

      Erst in der Sicherheit seiner armseligen Behausung hatte Pablo seinem Verdruss freien Lauf gelassen.

      »Unsere Herren mögen hart sein«, hatte Margarita knapp entgegnet, »doch Gott will, dass wir uns fügen!«

      »Will er auch, dass wir wieder keinen Peso in der Tasche haben?«

      Pablo fühlte tiefen Groll in seiner Brust sitzen.

      Gott, ja, er zeigte sich ihm und den anderen einfachen Seelen an jedem Tag, den sie zu leben und zu überleben in der Lage waren, aber er blieb ihnen auch so fern, dass er seit Menschengedenken ihre Misere nicht zu bessern half und sie darben ließ.

      »Lass mich allein hinausfahren!«, hatte Frederico dann zur Verblüffung von Pablo geäußert.

      Diesem Satz hatte keine Ernsthaftigkeit innewohnen können.

      »Schlag dir das aus dem Kopf!«

      Pablo war zum Fenster gegangen und hatte durch die kleine Öffnung auf das aufgewühlte Meer geblickt.

      »Ich werde auch rechtzeitig vor dem Sturm zurück sein.«

      Da war er ausgesprochen, dieser eine, dieser letzte Satz, den Pablo von seinem Sohn zu hören bekommen hatte. Dieser so viel Selbstsicherheit ausdrückende Satz, die von den haushohen Wellen so erbarmungslos zerschmettert worden war. Dieser Satz, der sich tief in seinem Gedächtnis eingegraben hatte.

      Ein Blick des Vaters, der deutliche Missbilligung ausgedrückt hatte, war die einzige Antwort gewesen.

      Und doch hatte Pablo, seiner Befürchtung zum Trotz, irgendwo auch den Glauben an Fredericos Fähigkeiten gehabt.

      Diese Zerrissenheit in ihm, die Not vor Augen, hatte Pablo nicht mehr sprechen lassen. Kein einziges Wort hatten Vater und Sohn in der Sache noch miteinander gewechselt. Und allein darum schon hatte Pablo seither keine Ruhe mehr gefunden, sich so viele Male mit Selbstvorwürfen traktiert, auf dass es ihn nahezu auffraß, und war er so oft mit Fredericos Namen auf den Lippen schweißgebadet in der Nacht aus unruhigem Schlaf hochgefahren.

      Warum hatte er nicht zu klaren Worten gefunden? Warum hatte er es zugelassen, dass Frederico aus seiner Halbherzigkeit eigenen Mut abgeleitet hatte und vielleicht sogar die Verpflichtung, den Fang alleine einzubringen?

      Wohl hatte Pablo auch seine eigene Bewährungsprobe vor Augen gehabt, als er damals, im gleichen Alter wie Frederico, sich alleine in der tosenden See behauptet hatte.

      Aber nichts konnte seine Schuld von ihm nehmen. Er war verantwortlich für den Tod des geliebten Sohnes. Tiefe Bitterkeit im Empfinden bei jedem Gedanken an ihn.

      Als Pablo am Morgen des unseligen Tages das Haus verlassen hatte, war ihr Boot, das Frederico liebevoll auf den Namen »Santa Maria« getauft hatte, weg gewesen. Er hatte es stumm zur Kenntnis genommen, seinen vom Wetter gegerbten Mantel wegen des heftigen Windes fester um sich gepackt und war ohne zum Meer zu schauen zu den nahen Besitzungen des alten Marqués aufgebrochen.

      Über die weiteren Geschehnisse dieses Tages und der nachfolgenden Zeit hatte sich eine kalte Finsternis gelegt, aus der nur bruchstückhaft Bilder einer fieberhaften Suche und eines kieloben treibenden Bootes und das Klagegeschrei der Frauen herausdrangen.

      *

      »Was wollt ihr tun?«

      Es war Luis, von Natur aus redseliger als Pablo, der das Schweigen durchbrach.

      Er und der Freund waren wieder vor dem Haus angelangt. Sie saßen auf der alten Eichenbank neben dem Eingang, auf der auch schon Frederico vor langer Zeit gesessen und so oft gespielt hatte und derer sich um diese Zeit der vor der Sonne unaufhörlich flüchtende Schatten noch bemächtigte.

      Die beiden fassten sich nicht in den Blick, sonst hätte Luis bemerkt, dass sein alter Freund keinen ratlosen Eindruck machte.

      »Wir werden den Jungen behalten!«

      So lange wenigstens, bis er gehen musste.

      Die Antwort kam bedacht. Dennoch fühlte Luis Zweifel in sich aufsteigen.

      »Überlegt es euch gut. Das Ende wartet doch schon mit offenen Armen auf euch.«

      Bevor Pablo entgegnete, dachte er an die wenige Worte umfassende Botschaft, die zusammen mit einigen Oliven in einem kleinen Ledersäckchen in dem Bastkorb gelegen hatte.

      Mühsam nur und widerwillig hatte er vor vielen Jahren durch den Ehrgeiz seiner jüngsten Schwester Felipa, die in einem nah beheimateten Orden lebte und zum Auskurieren eines hartnäckigen Hustens für längere Zeit in ihr Dorf zurückgekehrt war, die Kunst des Lesens erlernt und sich jeher gefragt, wozu es gut sein mochte. Jetzt endlich wusste er es.

      »Es muss einen Sinn haben!«, sagte er dann. »Sonst hätten sie ihn in Cadiz den Nonnen übergeben können.«

      Worte, denen keine Erwiderung folgte.

      Erst als er sich auf den Heimweg machte, den er viel früher hatte antreten wollen, fragte Luis: »Wird unser Herr von ihm erfahren?«

      »Ich weiß nicht. Irgendetwas hindert mich …«

      Sich in Schweigen zu hüllen, schien ihm das Richtige zu sein.

      *

      Die Jahre gingen dahin.

      »Er ist ein stiller und sonderbarer Junge, aber Pablo und Margarita haben mit ihm ihren Frieden gefunden. Ich brauche nicht mehr über ihn zu wissen.«

      Diesen Satz sprach Luis zu sich selbst.

      Das sich vielerorts wegen der rätselhaften Herkunft des Kindes entfachende Gerede des einfachen Volkes und das offene, aber in keine Bestrebungen laufende Interesse der immer präsenten Kirche und der weltlichen Macht, die über die bewährten Kanäle ebenso Kenntnis von dem Jungen erlangten, hatten sich verflüchtigt.

      Der Junge war auf den Namen Gabriel getauft worden und entwickelte sich auf den ersten Blick unauffällig, sah man von seinen fast blonden Haaren einmal ab. Etwas Seltsames lag dennoch in jedem Erscheinen von ihm.

      Die Menschen hörten auf zu reden, wichen ihm ohne böse Gesinnung aus und vertieften sich in ihre Arbeit. Sie vermieden es, ihn anzuschauen. Als sei es ein Gebot von höherer Macht, den Jungen unangetastet zu lassen und ihn nicht mit ihren Blicken zu belasten.

      Gabriel begann seine Außergewöhnlichkeit zu begreifen, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Ein sich in der Tiefe nur bewegendes Wissen.

      »Warum bin ich nicht so wie sie? Ich fühle, dass ich anders bin.«

      Wenn die Kinder des Dorfes miteinander spielten oder sich sonst wie begegneten, stand er oftmals abseits da und schaute zu und schwieg. Bisweilen wurde er wegen seiner besonnenen Art dazu bestimmt, die Entscheidung über eine Streitigkeit zu treffen. Und immer wurde sie ohne Murren anerkannt. Wirken auf der Ebene des Unbewussten.

      In die Gegebenheiten und das Leben mit Pablo und Margarita, die für ihn eher eine Mischung aus Eltern und Großeltern und nicht nur Eltern waren, hatte er sich gut eingefunden.

      Gabriel freute sich, wenn Pablo ihn mit zum Fischfang hinaus aufs Meer nahm. Dass dies nicht bei ungünstigem Wetter geschah, blieb von ihm auf Dauer nicht unbemerkt. Fragen stellte er deshalb keine.

      Lieber