„Ich habe nie einen Juden erschossen!“
Franz Murer vor Gericht in Graz 1963.
Johannes
Sachslehner
»Rosen für den Mörder«
Die zwei Leben
des NS-Täters Franz Murer
Kein Mörder, nur „Verwalter“: Franz Murer 1948 in Wilna.
Murer war sehr aktiv.
Er brauchte Blut. Er musste Menschen morden.
Das war ihm eine Art Bedürfnis.
Ein Unmensch.
Augenzeugin Mascha Rolnikaite (1927–2016) in einem Interview 2013
Jidn, sogt, wer schtejt bajm tojer?
Jidn, sogt, woss tut men hajnt?
Mir ducht sich, as ess schtejt do Murer,
Undser besster guter frajnt.
Aus: Rikle Gleser, „Du geto majn“, einem „Schmugglerlied“ der Juden von Wilna
Nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen ist und bleibt die
wahre Gefahr.
Primo Levi
Jede andere Darstellung ist eine Geschichtslüge.
Franz Murer, Autobiografische Skizze
Die zweite Heimat Franz Murers: Gaishorn am See im steirischen Paltental.
Haligai!
Jakob Gens, der Chef der jüdischen Polizei und so etwas wie der verlängerte Arm der deutschen Besatzer im Ghetto von Wilna, hat seine eigene Theorie: Murer müsse drogenabhängig sein – nur so sei zu erklären, dass man an manchen Tagen mit ihm wie mit einem normalen Menschen sprechen könne, an anderen Tagen aber er sich wiederum wie ein Berserker aufführe. Ansonsten sei es unmöglich, dass sich ein und dieselbe Person einmal so benehme und einmal so. Niemand verhalte sich so wie Murer, niemand. Seine Bestialität, so erklärt Gens seiner Tochter Ada, sei einzigartig und eines Tages werde er dafür bezahlen müssen.
Jakob Gens, der Murers Taten und Untaten kennt wie kein anderer, wird am 14. September 1943 von der Gestapo erschossen und seine Vorhersage erfüllt sich nur zum Teil: Murer „bezahlt“ zwar mit sechs Jahren Zwangsarbeit im sowjetischen Gulag, ein österreichisches Gericht in Graz scheitert jedoch spektakulär. Es scheitert am „zweiten Gesicht“ dieses Mannes, der nun den biederen Bauern und fürsorglichen Kammerobmann mimt, der jede Schuld von sich weist und nie einen Menschen misshandelt oder gar getötet haben will. Die Geschworenen glauben ihm, dem Täter, und nicht den aus aller Welt angereisten Opfern. Es passiert das Unglaubliche: Freispruch. Einst der Schrecken von Tausenden, verlässt er den Gerichtssaal im Triumph, in den Blumenläden der Umgebung sind die Rosen ausverkauft. Manche Medien klatschen Beifall und verstärken den Skandal, die Weltöffentlichkeit ist schockiert. Weitere Versuche, den Prozess noch einmal aufzurollen, scheitern.
„Jede andere Darstellung ist eine Geschichtslüge“ – mit diesem letzten Satz seiner autobiografischen Skizze, geschrieben wenige Jahre vor seinem Tod, verwahrte sich Franz Murer entschieden gegen jeden weiteren Versuch, seine Geschichte noch einmal zu erzählen – als „Zeitzeuge“ hätte er in seiner kurzen Schilderung bereits alles Wesentliche niedergeschrieben, „in erster Linie für meine Nachkommen, damit sie die Wahrheit über meine Tätigkeit erfahren“. Doch die Wahrheit, von der Franz Murer spricht, ist die Wahrheit, die er sich im Alter zurechtgezimmert hat. Eine fragwürdige Wahrheit, die auf konsequenter Verdrängung und Leugnung beruht, die der misstrauischen Nachprüfung nicht standhält, die beschönigt und zurechtbiegt. Eine zynische Wahrheit, die vor allem die Stimmen der Opfer nicht mehr hören, ja keinen Gedanken an sie verschwenden will und die jede selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln von vornherein unmöglich macht.
Das Paradoxe: Der Altbauer auf seinem Hof in Gaishorn am See – seit 1987 sind er und seine Frau im Ausgedinge – versteht offenbar selbst seine eigene Vergangenheit nicht mehr. Man hat den Eindruck, dass ihm die Wirklichkeit des Wilnaer Ghettos bereits entschwunden ist, er kann sie emotional nicht mehr nachvollziehen. Nicht mehr gegenwärtig sind die mörderische Kälte, der Hass und die Unbarmherzigkeit, die von seiner Person auf die jüdischen Opfer ausstrahlten. Ja, er weiß nicht mehr, warum er die ihm vorgeworfenen Verbrechen eigentlich begangen haben soll. Schmerzhaft gegenwärtig ist jedoch, was ihm, dem Täter, angetan worden ist: Da ist die nicht enden wollende „Hetze“ des Simon Wiesenthal und „gewisser Kreise“, die mit „aller Gewalt“ wollen, dass er schuldig gesprochen wird, da sind, wie er behauptet, „Verleumdungen“ und „unhaltbare“ Anschuldigungen. Ja, man hat es ihm tatsächlich leichtgemacht, sich zu verteidigen, denn er war nicht SS-Standartenführer und auch kein Mitglied der Gestapo, er war nicht Mitglied eines Einsatzkommandos und auch nicht Kommandant eines Lagers. Seine verhängnisvolle Rolle als Täter im Holocaust erschließt sich erst nach genauer Auseinandersetzung mit den Quellen. Das Beispiel Franz Murer illustriert die „Arbeitsteiligkeit“ der NS-Mordmaschinerie, das raffinierte Zusammenspiel von Zivilverwaltung, Gestapo und SD. Man musste nicht bei der SS sein, um beim Judenmord mitwirken zu können. Jene, die ihn mit organisieren helfen, rechtfertigen sich wie später Murer damit, dass doch alles „strengster Geheimhaltung“ unterstanden habe und man von nichts gewusst hätte. Ein beliebter Reflex der NS-Täter: Die Schuldigen sind immer die anderen.
Franz Murer schreibt in seiner autobiografischen Skizze den seltsamen Satz: „Ob es (= die Vernichtung der Juden, J. S.) richtig war, habe ich erst später bezweifelt, weil ja zu diesem Zwecke eigene Einsatzkommandos hinter der Front nachrückend, mit Hilfe von einheimischen litauischen Kräften, dies zur Aufgabe hatten“ – eine gequälte Formulierung, in der sich sein Dilemma im Umgang mit der Vergangenheit spiegelt. Es bleibt unausgesprochen, ist aber spürbar: der Wunsch, dem Bewusstsein der Schuld zu entkommen, der Erinnerung ein für alle Mal zu entfliehen.
Anno 2007 erscheint das Heimatbuch Gaishorn am See, Bürgermeister Karl Pusterhofer persönlich zeichnet als Herausgeber, die „inhaltliche Bearbeitung“ hat Stadtamtsdirektor i. R. Karl Weiß übernommen. Man sieht es dem Buch an: Da wurden keine Kosten und kein Aufwand gescheut, um der aufstrebenden Marktgemeinde im schönen Paltental ein gewichtiges publizistisches Denkmal zu setzen. Der heimatkundlich interessierte Leser findet denn auch in diesem dickleibigen Werk alles über die frühesten schriftlichen Nennungen des Ortes, über den schrecklichen Einfall der Türken 1480 und die grausame Pest 1679, über Grundherrschaften und Untertanen und das wunderbare spätgotische Gewölbe der zweischiffigen Pfarrkirche. Neueste Entwicklungen werden nicht ausgespart: So erfährt man im opulent bebilderten Kapitel „Die Faschingsgilde der Gaishörner“, dass sich der Gaishorner Fasching mit „spektakulären und qualitativ hochwertigen Events“ erfolgreich den „Erwartungen unserer Zeit“ stellt, der eigens kreierte Faschingsruß „Haligai!“, eine Abkürzung von „Hallo Liebe Gaishorner“, mittlerweile während des ganzen Jahres im Ort zu hören ist und die „Narrenabende“ bereits zu den absoluten Höhepunkten des kulturellen Lebens in Gaishorn am See zählen.
Was die Zeit von 1939 bis 1945 betrifft, so beschränkt man sich in dem 396-Seiten-Buch auf kompakte Information: auf genau einen Satz, der uns immerhin verrät, dass der Ort 51 Gefallene und 13 Vermisste zu beklagen hatte. 1952 hat man für die toten Soldaten ein Kriegerdenkmal errichtet, der Kameradschaftsbund des Ortes pflegt ihr Andenken. Ansonsten herrscht Schweigen. Schweigen über die politische Entwicklung vor und nach dem „Anschluss“, über die „Illegalen“ und ihre Karrieren, über die Begeisterung für den „Führer“. Und es fehlt ein Name, ein Name, für den die Gaishorner Bauern einst in gemeinsamer Empörung auf die