sind nicht ausreichend. Die objektiven Bedingungen müssen vorhanden sein, unter denen die subjektiven Tendenzen heranreifen und sich übersetzen können in organisierte und geleitete politische Praxis.«7
Dieser Fokus auf die objektiven Bedingungen verweist nicht nur auf den notwendigen gesellschaftlichen Reichtum, sondern auch auf die Krisenhaftigkeit einer Zeit. Aufgabe kritischen Bewusstseins bleibt es, nicht nur die multiplen Krisen der Gegenwart in den Blick zu nehmen, sondern sich auch aus dem subjektiven Konformismus herauszuarbeiten. Die Relevanz der utopischen Perspektive, die in Marcuses Schriften lebendig ist, hängt daher nicht ab von einem linearen Fortschrittsdenken, sondern von einem Bewusstsein für historische Gelegenheiten und politische Inventionsstrategien. Nicht eine bloß quantitative Vorstellung historischer Zeit, die im Altgriechischen mit dem Begriff des Chronos, unserer Chronologie, belegt ist, sondern ein Blick für qualitative Zeitmomente, was bei den alten Griechen mit dem Begriff des Kairos ausgedrückt wird, wäre hier philosophisch geboten. Marcuse ist sich dessen bewusst, wenn er gegen den Konformismus die Idee der Antizipation hochhält: »Während das Bewusstsein der konformistischen Mehrheit, verstanden als die Macht, den objektiven Bedingungen entspricht, eilt das radikale Bewusstsein diesen objektiven Bedingungen weit voraus. Es erkennt Potenzial in den objektiven Bedingungen. Es antizipiert noch nicht realisierte Möglichkeiten.«8
Wie ein solches Möglichkeitsdenken philosophisch geerdet werden kann, führt Marcuse in seinen Pariser Vorlesungen von 1974 vor. Auch er nutzte dafür eine besondere Gelegenheit. Nicht zufällig handelte es sich beim Vincennes-Campus um eine Reform-Universität im Rahmen der Sorbonne, die neben offiziell eingeschriebenen Studierenden ebenso der allgemeinen Pariser Bevölkerung offenstand. Wie Douglas Kellner in seinem Nachwort zur amerikanischen Ausgabe der Paris Lectures hervorhebt, stellen Marcuses Vorträge, die zum Teil bis zu drei Stunden dauerten und in denen er immer wieder Zwischenfragen beantwortete, Kernpunkte seiner Theoriebildung dar. »Die Pariser Vorlesungen präsentierten Marcuses Schlüsselideen einer Periode im Kontext der politischen Kämpfe der 1970er und verweisen sowohl auf Kontinuitäten als auch Brüche gegenüber seinen Schriften der 1960er, in denen er auftrat als radikaler Kritiker und Fürsprecher des revolutionären sozialen und politischen Wandels.«9
So sehr Marcuse seinen Fragestellungen aus den 1960er Jahren treu bleibt, so ist er zugleich in der Lage, seine Thesen den jeweils aktuellen Entwicklungen anzupassen. Bezogen auf die teilweise gängigen Vorurteile in der heutigen Kritischen Theorie, wonach Marcuse und Bloch in den 1960ern (und zum Teil 1970ern) die naiven Optimisten gegenüber dem Pessimismus von Adorno und Horkheimer gewesen wären, taugen Marcuses Pariser Vorlesungen als Gegenbeweis. Vor allem in den besonders langen letzten beiden Vorträgen bezieht er sich auch immer wieder auf empirisches wie statistisches Material, zum Beispiel zu dem, was er »Neue Arbeiterklasse« nennt, und führt methodisch vor, wie radikale Philosophie und qualitative Soziologie zusammengehen können. Er bemüht sich immer wieder darum, verbreitete Missverständnisse gegenüber seinen eigenen Texten auszuräumen. So kritisiert er durchaus nachdrücklich den revolutionären Voluntarismus der bereits zerfallenen Neuen Linken. Die neo- und alt-kommunistischen Varianten der zahlreichen K-Gruppen konnten mit Marcuses Kritik am klassischen marxistischen Determinismus längst nichts mehr anfangen. Sein Ausweg besteht immer wieder darin, den Zusammenhang von objektiven Gelegenheiten und subjektiver Sensibilität und rebellischer Subjektivität hervorzuheben. Die Präzision, mit der er stets auf diese Grundfrage seiner Philosophie zurückkommt, und zugleich die immense Bandbreite der behandelten Themen ist sicherlich durch die Situation einer Vortragsreihe ermöglicht, in der Marcuse die Gelegenheit nutzt, um auf Einwürfe zu reagieren, Aspekte assoziativ auszuführen und im besten Sinne öffentlich zu denken.
Sein Anspruch wird dabei besonders in der Ansprache an sein Publikum deutlich. Der Bogen wird gespannt von Marx und der Pariser Kommune über seine eigene Lebenszeit und den Pariser Mai hinaus in eine Zukunft, für die Marcuse eine sozialistische Revolution gerade nicht als Naherwartung zu behaupten wagt. »Ich denke, um wirklich global und erfolgreich zu sein, muss sie, wie Marx es vorhersah, im höchstentwickelten Industrieland der Welt auftreten, und zu ihrem Entstehen wird es einer Zeitspanne von 75 bis 150 Jahren bedürfen. Da haben Sie es. Wenn Sie diese Daten als optimistische Schätzung ansehen, zeigt es Ihnen nur, dass Sie noch einige Zeit haben, daran zu arbeiten, dass sie früher kommen wird. Einer Sache bin ich mir absolut sicher, dass, wenn Sie nicht jetzt dafür arbeiten, sie nicht in 75 Jahren kommen wird, sie nicht in 100 Jahren kommen wird, sie vielleicht überhaupt nicht kommen wird.«10
Indem Marcuse seine Zuhörenden als diejenigen anspricht, die bereits die Grundlagen für eine Veränderung legen sollen, die vielleicht erst gegen Mitte bis Ende des 21. Jahrhunderts kommen würde, spricht er sie als (welt-)historische Individuen an, denen er ein ungeheures, geradezu utopisches Geschichtsbewusstsein zu lehren versucht. Gerade in solchen direkten, persönlichen Äußerungen wird die Energie erahnbar, die seine Vorträge in ihrer Wirkung auf die unmittelbar Zuhörenden gehabt haben müssen. Aspekte, die er in schriftlichen Werken so vielleicht nicht formuliert hätte, auch wenn sie den Hintergrund seines Denkens ausmachen, werden hier öffentlich ausgesprochen.
Marcuse schreibt von Paris aus am 22. April an Leo Löwenthal: »My lectures here are a big success, but again much too large crowd.«11 Die besondere Qualität, die er hier selbst anspricht, macht seine Pariser Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen zu einer besonders wertvollen Quelle und zu einem sehr speziellen Lesevergnügen. Während sich der Text also, wie Kellner erwähnt, hervorragend für einen Einstieg in die Beschäftigung mit Marcuse eignet, da eine Vielzahl von Aspekten seines Werkes angesprochen werden, so waren für die Präsentation der Vorträge als lesbarer Text doch auch einige Eingriffe stilistischer Art notwendig. So wurden bestimmte Wendungen, wie sie für mündliche Rede typisch sind, geglättet, sodass sie dem Lesefluss nicht im Weg stehen. In der vorliegenden Form sind die Pariser Vorlesungen nicht zuletzt sowohl als Textgrundlage für akademische Seminare als auch für selbstorganisierte Lesekreise geeignet.
So sehr also die Form der Pariser Vorlesungen selbst der Beschäftigung mit Marcuse förderlich sein kann, so ist es doch in erster Linie die Aktualität ihrer Inhalte, die eine Auseinandersetzung mit ihnen motivieren soll. Was Marcuse teilweise erst als Tendenzen erkennen konnte, namentlich die Formen einer neoimperialistischen Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer, die autoritären Tendenzen in westlichen Demokratien, die bröckelnde Integration der Lohnabhängigen ins herrschende System, oder die Bedeutung der Frauenbewegung, sind heute angesichts der kapitalistischen Globalisierung, des autoritären Neo-Nationalismus, des Sozialabbaus und der Prekarisierung in den Industrieländern und des sexistischen Backslashs hoch aktuell. Grundsätzlich argumentiert Marcuse aus einer mehrdimensionalen und planetarischen Perspektive. Die behandelte Vielfalt der Widersprüche, etwa wenn er Naturverhältnisse oder rassistische Unterdrückung anspricht, stellt sich heute z. B. durch den Klimawandel und weltweite Migration, als Präsenz der Armut des globalen Südens im reichen Norden selbst, nur umso eindrücklicher dar. Was von Marcuse übernommen werden kann, ist seine Suche nach Verbindungen zwischen Krisen und Widersprüchen, Möglichkeiten und Akteurinnen und Akteuren.
Lisa Doppler, Peter-Erwin Jansen
und Alexander Neupert-Doppler
Um der Hoffnungslosen willen
Marcuses kritische Theorie der Praxis
Roger Behrens
»Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang.«
Walter Benjamin, Einbahnstraße (1928, S. 148)
Für Martin Jay
– und in Erinnerung an Leo Löwenthal (1900–1993)
Paralyse der Kritik
»Das es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.«
Walter Benjamin, Das Passagen-Werk (1991, S. 592)
Selbstverständlich wird heute vom »Globalen Kapitalismus« gesprochen, von seiner Allgegenwart ebenso wie von seinem – nahenden, wenn nicht absehbar bevorstehenden – Ende.1 Allein, den Kapitalismus