längst zum guten Ton öffentlicher Debatten über den Zustand der Welt:2 ohne Weiteres ist von Krise beziehungsweise Krisen die Rede, zahllose Bücher, Reportagen und Berichte dokumentieren das Elend, die Not, die Ungerechtigkeit und Ungleichheit, den Terror, dokumentieren ebenso das moralische, rechtliche, politische und wirtschaftliche Versagen der »westlichen«, »wohlhabenden« und »reichen« Gesellschaften,3 schließlich den Rechtsruck, die populistische Reaktion und die autoritäre Revolte.4 – Wie schon im vergangenen Jahrhundert ist das Inhumane die politische und ökonomische Signatur auch des 21. Jahrhunderts; schon vor zehn Jahren warnte der ansonsten mit geschichtlichen Prognosen zurückhaltende Physiker Stephen Hawking, dass die Menschheit die nächsten einhundert Jahre auf diesem Planeten nicht überleben werde.5
Gleichwohl: Im Angesicht der Katastrophe wird eben diese Katastrophe doch allenthalben – mal mehr, mal weniger luzide, mal mehr, mal weniger radikal – kritisiert. Von einer »Paralyse der Kritik«, die Herbert Marcuse vor einem halben Jahrhundert einleitend in seinem Eindimensionalen Menschen (1964, dt. Übersetzung von Alfred Schmidt 1967) diagnostizierte, kann also augenscheinlich gar keine Rede sein. Widerspricht das insofern Marcuses Analyse von einem »korporativen Kapitalismus«6, der eine Gesellschaft durchherrscht, in der die Menschen auf allen Ebenen in einer Logik der Eindimensionalität derart verfangen sind, dass sie eben diese Logik beständig stützen, reproduzieren und sogar optimieren? Marcuse deutete die »Paralyse der Kritik« nicht nur als Mangel oder Schwäche einer kritischen Theorie, sondern als (politisches) Problem der Praxis: Anfang der sechziger Jahre sprach Marcuse konsequent, zumal im Spiegel der konsumkapitalistischen Verhältnisse in den USA, von einer »Gesellschaft ohne Opposition«. Demgegenüber ist jede Kritik wie paralysiert.
Neue Sensibilität
Doch bereits als der One-Dimensional Man 1964 bei Beacon Press in Bosten erschien, zeichnete sich eben jene »Übersetzung« ab,7 die Marcuse als notwendig für die Einrichtung einer menschlichen Gesellschaft, also die Befreiung und Befriedung des Daseins herausstellte: Es konstituierten sich politische Bewegungen, es politisierten sich kulturelle Bewegungen – die bisher Ausgegrenzten und Marginalisierten, die Diskriminierten und Erniedrigten, die von Rassismus, Sexismus, politischer (also staatlicher) Willkür Betroffenen rebellierten, revoltierten, fingen an, sich zur Wehr zu setzen. Und sie erprobten dies mit bis dahin unbekannten, völlig neuen Formen wie Inhalten des Protests. Es war ein Protest nicht nur gegen Ausbeutung und Unterdrückung, gegen den Krieg (ab 1964: Vietnam-Krieg) und Diktatur (ebenfalls ab 1964: Militärregierung in Brasilien), gegen Hunger und Elend (1967 ff.: Biafra-Konflikt), sondern es war auch ein Protest für, nämlich für ein besseres Leben, für ein schönes Leben, für ein richtiges und gutes Leben, und überdies ein Protest für alle. Was dann in Paris im Mai 1968 seinen Höhepunkt fand, war zugleich die menschheitsgeschichtlich erste Situation (die, überschattet vom Franco-Faschismus, im »kurzen Sommer der Anarchie« in Katalonien 1936 einen Vor-Schein hatte)8, in der eine Revolution sich nicht als äußerste Verzweiflungstat ergab,9 sondern als möglicher Schritt von der Vorgeschichte in die wirkliche, von Menschen für Menschen unter menschlichen Bedingungen gemachte, selbst bestimmte Geschichte.10
Die Revolte, die revolutionäre Protestbewegung, der Pariser Mai 68, hatte freigesetzt, für einen historischen Moment wenigstens, was Marcuse mit dem Begriff der »neuen Sensibilität« umschrieb: »Die neue Sensibilität ist zum politischen Faktor geworden … Die neue Sensibilität, die den Sieg der Lebenstriebe über Aggressivität und Schuld ausdrückt, würde im gesellschaftlichen Maßstab das vitale Bedürfnis nach Abschaffung von Ungerechtigkeit und Not fördern … Die neue Sensibilität ist eben deswegen Praxis geworden; sie entsteht gegen Gewalt und Ausbeutung, in einem Kampf für wesentlich neue Weisen und Formen des Lebens; sie impliziert die Negation des gesamten Establishments, seiner Moral, seiner Kultur; die Behauptung des Rechts, eine Gesellschaft zu erreichten, in der die Abschaffung von Armut und Elend Wirklichkeit wird und das Sinnliche, das Spielerische, die Muße Existenzformen und damit zur Form der Gesellschaft selbst werden.«11
Zwei einander widersprechende Hypothesen
»Bis heute realisieren die Utopien sich bloß, um den Menschen die Utopie auszutreiben und um sie aufs Bestehende und aufs Verhängnis desto gründlicher zu vereidigen.«
Adorno (1953, S. 517)
Doch auch diese Revolution scheiterte, die Revolte wurde niedergeschlagen, hatte – trotz ihrer weltweiten Aktionen – mit ihrem Antiautoritarismus keine Kraft gegen die Gewalt des herrschenden Autoritarismus. Und mehr noch: Die vitalen Bedürfnisse der Revolte konnten soweit entschärft werden, dass sie halfen, die gesellschaftliche Ordnung zu sichern, statt sie emanzipatorisch zu verwandeln. Die gesellschaftliche Entwicklung, die daraus folgte, haben Luc Boltanski und Ève Chiapello als den »Neuen Geist des Kapitalismus« ausgemacht: dass der Kapitalismus alle menschlichen Kräfte, auch und gerade diejenigen, die gegen ihn – in destruktiver wie emanzipatorischer Absicht – gerichtet sind, integrieren kann, und zwar so, dass diese Kräfte nicht einfach entschärft werden, sondern sogar zur Stabilisierung und »Verbesserung« der kapitalistischen Gesellschaft »funktionalisiert« werden können; kurzum: Antikapitalistische Kräfte werden in Kräfte des Kapitalismus verwandelt. Dass sich derart ein regelrecht neuer Geist des Kapitalismus verfestigt, verorten Boltanski und Chiapello in den 1970er Jahren: Hier wird – um es diskursanalytisch zu sagen – ein Dispositiv der »Sozialkritik« (definiert durch die Verteidigung von Gleichheit und Solidarität) durch ein Dispositiv der »Künstlerkritik« (definiert durch die Forderung nach Selbstbestimmung und Authentizität) abgelöst; es etablieren sich Protestformen, die als Kritik am Kapitalismus gleichzeitig zum Engagement für den Kapitalismus werden.12
Dass Marcuse in seinen Pariser Vorlesungen das dynamische Verhältnis von »Kapitalismus und Opposition« in ähnlicher Weise beschreibt, ist mehr als bloß eine zeitliche Koinzidenz; zentrale Aspekte der Analyse von Boltanski und Chiapello antizipiert Marcuse, wenn er 1974 sagt, »dass diese Integration, diese verbreitete Unterstützung« der Menschen für ein ihren objektiven Interessen – Überleben, und dies womöglich auch angenehm, erfüllt, glücklich – widersprechendes System »auf einer breiten materiellen und kulturellen Basis begründet ist. Anders gesagt handelt es sich sicherlich nicht nur um ein rein ideologisches Phänomen. Sie hat […] eine starke materielle Basis.«13
In den 1970ern bewegt sich Marcuse weiterhin zwischen den Optionen, die durch »zwei einander widersprechenden Hypothesen« markiert sind, die er bereits im Eindimensionalen Menschen skizzierte:
»1. dass die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden;
2. dass Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können.
Ich glaube nicht, dass eine klare Antwort gegeben werden kann. Beide Tendenzen bestehen nebeneinander – und sogar die eine in der anderen. Die erste Tendenz ist die herrschende, und alle Vorbedingungen eines Umschwungs, die es geben mag, werden benutzt, ihn zu verhindern. Vielleicht kann ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, das Bewusstsein und Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht einmal eine Katastrophe die Änderung herbeiführen.«14
Noch 1974 – also zehn Jahre nach dem Eindimensionalen Menschen – war nicht entschieden, ob eine Große Weigerung sich Bahn bricht, oder »uns« die Hoffnung »nur um der Hoffnungslosen willen« gegeben ist. Es ist – gerade im Versuch der Aktualisierung15 – noch keineswegs ausgemacht, welche »Tendenzen« sich durchsetzen werden. Dies als praktische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Emanzipation zu begreifen, ist Aufklärung als kritische Theorie der Gesellschaft, von der Marcuse handelt.
Theorie und Praxis
»Alles, was dem Leben, besonders dem glücklichen Leben, dient, ist gut. Reduktion der repressiven Erlebens- und Lebensbedingungen ist schließlich das Ziel der erotischen Instinkte […] Das Kriterium ist das, was lebensbejahend ist, was der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten, menschlichen Glücks und Friedens dient.«
Marcuse (1971, S. 428 und S. 436)
»Ich verstehe unter ›Theorie‹ die Marxsche