Herbert Hoffmann

Esoterische Osteopathie (1908)


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Intuition, Spiritualität – das Unbekannte – durchdringen sich in Stills Welt unentwegt gegenseitig.

      Die gebetsmühlenartige Einforderung der evidence based medicine innerhalb medizinischer Professionen schon in der Gründerzeit hat diese mehr philosophischen Überlegungen in den Hintergrund gedrängt. Insofern steht Hoffmanns Esoterische Osteopathie hier ziemlich verwaist in den Buchregalen. Und dennoch gibt es ein zunehmendes Interesse an den ausgedehnten philosophischen Überlegungen in den Schriften des ›Alten Doktors‹.

      Auch wenn sich die Terminologie zwischen Hoffmann und Still deutlich unterscheiden, so verbindet beide doch ein gemeinsamer Geist.

      Hoffmann lebt in jenen wilden Jahren der Gründerzeit, in denen hart um die politische Anerkennung der Osteopathie gerungen wurde. Analysiert man Stills Schriften aus jener Zeit, stellt man immer wieder die dominante Position der Anatomie innerhalb der Medizin fest. Andere berühmte Bücher jener Zeit (Barber 1898, Hazzard 1899, 1905) belegen, dass hiermit interaktive Systeme auf rein materieller Basis gemeint waren, und dieser Trend ist nach gut 100 Jahren immer noch vorherrschend. Und tatsächlich: Im Licht der gängigen medizinischen Forschung ist diese Annäherung ziemlich praktisch.

      Aber Still bietet bei genauerem Studium darüber hinaus auch einen völlig neuen Blick auf ›Anatomie‹, indem er sie als Werk eines intelligenten Schöpfers betrachtet. ›Gesundheit zu finden‹ heißt ihm zufolge, in der organisierten Struktur und Funktion die Absicht und den Verstand eines Schöpfers zu erkennen.

       »Gesundheit zu finden ist Aufgabe des Arztes.

       Krankheit kann jeder finden.« 3

      »Jener Gott, der Leben, Verstand und Materie auf eine Art und Weise ausgearbeitet und vereinigt hat, dass deren Summe das verbindende Glied zwischen der Welt des Verstandes und dem als Materie bekannten Element darstellt.« 4

      Behandlung bedeutet demnach stets in Einklang mit dem Schöpfer zu arbeiten. Dies bezeichnet einen zweiten Aspekt in der Osteopathie, und Hoffmanns Abhandlung dient hier als eine Art ›missing link‹. Der Körper ist mehr als nur die Summe seiner Teile. Diese Ganzheitlichkeit entgeht der unreflektierten Palpation ebenso wie dem Sichtbefund. In diesem Kontext adaptiert Still das Konzept der biogenetischen Lebenskraft, um die unerklärbaren Phänomene innerhalb des menschlichen Organismus zu entschlüsseln.

      An anderer Steller verweist er auf die dreifach differenzierte Einheit des Menschen – Körper, Geist, Seele5 – als Ausdrucksformen besagter Lebenskraft.

       »Erstens der materielle Köper, zweitens das spirituelle Lebewesen, drittens ein Lebewesen des Verstandes, das allen lebendigen Bewegungen und materiellen Formen weit überlegen ist, dessen Pflicht darin besteht, diese große Maschine des Lebens weise zu leiten.« 6

      Still ermahnt den Osteopathen also, ein Philosoph, ein »Sucher der Wahrheit« zu sein. Tatsächlich sollten seine Studenten, die er stets aufgefordert hat als Mechaniker und Ingenieure zu arbeiten, zugleich immer auch einen Blick über den Tellerrand werfen. Hier ein Beispiel:

       »Mein Ziel ist es, den Osteopathen zum Philosophen zu machen und ihn auf den Felsen des vernünftigen Schließens zu stellen. So muss ich hinsichtlich einer Behandlung des menschlichen Köpers keine detaillierten Angaben machen, da er qualifiziert genug ist, zu beurteilen, woraus Variationen der Form und der Bewegung entstehen.« 7

       »Eine der größten, wenn nicht die größte Frage, die sich jemals einem Philosophen in allen Zeitaltern gestellt hat, ist: Was ist Leben? Ist Leben eine Substanz? Wenn ja, was sind ihre Eigenschaften, sofern es sie gibt? … Am Ende solcher philosophischen Arbeiten schließt der Philosoph: Leben ist tatsächlich eine Substanz und der Summe aller Elemente im Universum überlegen. Ihre Überlegenheit wird durch eine einzige Eigenschaft bewiesen – den Verstand. Aufgrund seiner unbegrenzten Kunstfertigkeit regiert, steuert und benutzt er alle Kräfte und Elemente nach seinem Willen.

       Das Leben ist eine Substanz, die den Raum des gesamten Universums erfüllt.

       Das Leben ist der Gott, die Weisheit, die Kraft und die Bewegung aller Dinge.« 8

      Aber nur wenige seiner Schüler scheinen diesen Aspekt erfasst zu haben, oder er erschien ihnen als unpraktisch. Und tatsächlich erfordert er die Kultivierung einer Analyse, der sich viele entziehen, vielleicht auch weil sie die Fun damente des therapeutischen Selbstverständnisses erschüttern. Außerdem bedarf es enormer innerer Energie ohne sichtbare Belohnung.

      Herbert Hoffman hat diese Herausforderung angenommen und seine Abhandlung repräsentiert den ersten Versuch der Interpretation Stills Gedanken in dieser Richtung. Später sollten ihm noch Charlotte Weaver, William Sutherland, Rollin Becker, Robert Fulford, Jim Jealous and Pierre Tricot folgen. Sie alle sehen den osteopathischen Ansatz weit über einen rein physiologischen Ansatz im biologischen Sinn hinausreichen. Oft werden diese Ansichten als unwissenschaftlich oder gar als Scharlatanerie abgetan. Dennoch ist gerade heutzutage ein stark zunehmendes Interesse an komplementären Medizinformen mit alternativen Interpretationen von Wissenschaft und Leben festzustellen, die sich ebenfalls mit der Bedeutung des Bewusstseins beschäftigen.

      Die gegenwärtige Renaissance der esoterischen Osteopathie soll den allgegenwärtigen dialektischen Widerspruch beim Verständnis des Fassbaren und des Unfassbaren beleuchten und dabei helfen die Grenzgebiete unseres Bewusstseins in den Kreis gesicherten Wissens zu ziehen.

      Wie schon zuvor zitiert widmet Still ein ganzes Kapitel in Die Philosophie und Mechanischen Prinzipien der Osteopathie Überlegungen zur Essenz des Lebens im Sinne einer biogenetischen Lebenskraft. Dabei favorisierte er eine vitalistische Sichtweise, wobei er sich offensichtlich Gedankengut von Elliot Coues, einem philosophisch interessierten amerikanischen Ornithologen ausleiht,9 der eine vergleichbare Terminologie bei seiner Beschreibung der Natur des Lebens im Kontext allgemeiner Biologie benutzt. Hier ein Beispiel aus einem seiner Vorträge vor der Philosophical Society of Washington:

       »Das Leben als Ganzes ist selbstverständlich die Summe aller Phänomene der sich manifestierenden belebten Natur. Über das Jenseits der materiellen Manifestationen, über das Abstrakte der Natur oder über die Essenzen der Attribute von Flora und Fauna, scheint kein Wissen möglich. Und obwohl ich mir nicht einmal vorstellen kann, was Leben jenseits des Materiellen ist oder sein mag, so unmöglich ist es für mich das Leben nicht als existierende Realität jenseits materieller Zustände wahrzunehmen und so unmöglich, dieses Konzept nicht unwillkürlich in mir zu tragen.

       Dies indiziert natürlicherweise das »vitale Prinzip«, das Postulat der Realität einer Kraft, die als »vital« bezeichnet wird. Sie repräsentiert ein wahrhaftiges Biogen oder Lebensspender, die auch unabhängig vom Materiellen existieren kann und auch nicht von irgendeiner materiellen Kraft abhängig ist. Und obgleich es sich dabei um eine reine Spekulation handelt ist es mir unmöglich das Gegenteil anzunehmen.« 10

      Coues bezweifelt jedoch, dass diese Hypothese ebenso glaubhaft ist, wie die Behauptung der materiellen Selbstorganisation vom kosmischen Nebel über die einzelne Zelle bis hin zur Komplexität des Menschen.

      Obwohl er seinem Publikum absichtlich eine religiöse Argumentation vorenthält, verlässt er sich auf die klassische Ursache-Wirkung-Verknüpfung, die auf einen ultimativen bzw. kreativen Ursprung zurückgeht – ähnlich der Verehrung eines Gottes in zahlreichen Kulturen.

      Er zitiert den Begriff »Biogen« ganz im Sinne Stills Gedankenwelt und die Datierung unterstreicht einen möglichen Einfluss seiner Ideen auf Still, ähnlich wie bei Herbert Spencer (siehe weiter unten).

      In einer anderen Arbeit über die Modalitäten der Sinneswahrnehmung von Vögeln macht Coues folgende höchst interessante Aussage:

       »Sämtliche Tiere scheinen empfänglich für Biogenese, eine Neigung, die aus dem Biogen selbst resultiert; eine Substanz bestehend aus