Wolfgang Fritz Haug

Jahrhundertwende


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scheint die Fortsetzung beschleunigt zu haben. Ausgerechnet Schatalin formulierte gestern ein Ultimatum an Gorbatschow: entweder Rücktritt oder Bruch mit der KPdSU, Auflösung der Sowjetunion, ökonomischer Liberalismus. Juri Afanasjews Sprache »extremistisch«: Gorbatschow für ihn plötzlich ein Mann des Lagers, der Diktatur.

      Ich arbeitete derweil fieberhaft an Band 1 der Gramsci-Ausgabe, kam zu nichts anderem. Gestern, zum 100. Geburtstag Gramscis, lieferten wir die letzten Überarbeitungen ab, besprachen die noch offenen Fragen, stellten die Weichen für den Druck am Wochenende. Aber der Krieg und Gorbatschows Krise beherrschten alle Zwischenzeiten.

      Krieg. – Hauptüberschrift der heutigen FAZ: »Der Luftkrieg gegen den Irak ›ermutigend und insgesamt planmäßig‹«. Das verstehen sie unter Nachrichten. Das Wörtchen »insgesamt« steht fürs Scheitern der Blitzkriegshoffnungen. Israel konnte nicht geschützt, die Raketenwaffe des Irak nicht ausgeschaltet werden. Eine ungeheuer anschwellende Massenbewegung drängt andere arabische Staaten zum Kriegseintritt auf Seiten des Irak. – 20 Prozent der bekannten Ölreserven des Globus im Irak und in Kuweit. – Trotz Ungewissheit des Krieges steht der »Sieger« für die FAZ fest: die Hochtechnologie. An anderer Stelle wird deutlich, dass das nur ein Deckname ist für die Rüstungsindustrie. Beim Hersteller der »Patriot«-Raketen, mit denen man einige irakische Raketen hat abschießen können, der Raytheon Company, »sind inzwischen die Fertigungskapazitäten rund um die Uhr ausgelastet«. Aufwind fürs Rüstungskapital (Wehrtechnik), »nicht nur moralisch, auch wirtschaftlich«: an der Börse »die größte ›Rüstungshausse‹ seit dem Zweiten Weltkrieg«. Nachfrageschub aus dem In- und Ausland.

      26. Januar 1991

      Riesige Friedenskundgebung in Bonn. Nicht weniger als am Höhepunkt der Friedensbewegung. Diese also nicht verschwunden.

      Die Überdeterminierungen in der Konflikt- und Interessenlage bilden einen Knoten, der die Linke mitfesselt. Außer dass man den Krieg wegwünscht, keine klare Botschaft. Eines klar: die herrschende Weltunordnung fürs Weiterleben auf dem Globus tödlich. Andrerseits ordnet sich die Welt im Krieg auch um.

      Immanente Dummheit des US-Lagers: dass sie den Arabern nicht starke Angebote machen, also nicht etwa versuchen, die palästinensischen Interessen aus der Kriegsfront des Irak herauszulösen.

      28. Januar 1991

      Krieg. – Vereinzelte Zeugnisse eines unausdenkbaren Grauens des Golfkrieges, tote Kinder, im Ölschlamm eines tausend Quadratkilometer großen Petroleumteppichs verendende Vögel. Mit der Kriegslogik Vorherrschaft der Lügen & Zensur.

      Im letzten Quartal von 1990 ist das Sozialprodukt der USA offiziell um über 2 Prozent geschrumpft (Wachstum 1988: 4,5 %; 1989: 2,5 %; 1990: 0,9 %). Der Notenbankpräsident, Greenspan, verspricht in halbklaren Worten kriegswirtschaftliche Konjunkturimpulse. Bereits jetzt würden mehr PKWs gekauft. Gegen Steuererhöhung. Der Krieg werde nicht viel kosten. Dafür zwei Gründe: erstens werde »der Krieg bisher mit bereits bezahlten Waffen aus den Lagern geführt«; zweitens »tragen die Verbündeten einen nicht unerheblichen Anteil der Kosten im Rahmen des ›burdensharing‹«. – Mit anderen Worten: Lagerräumung, bezahlt mit Tributen.

      In Deutschland sind die Urlaubsbuchungen laut DER zwischen 30 und 40 Prozent zurückgegangen. Die Lufthansa, deren Auslastung seit Kriegsbeginn von 60 auf 40 Prozent gesunken ist, hat 6 Prozent ihrer Flüge gestrichen. Die Leute fürchten die Ausdehnung des Krieges in diffusen Terrorismus.

      *

      Heute Nacht, gegen ein Uhr, die Gramsci-Dateien auf eine Diskette gepackt, völlig erschöpft, dann mit Klaus Bochmann, Leonie Schröder und Pit Jehle zu Barbara Steinhardt, wo wir die Fertigstellung bei einer Flasche Champagner feierten. Heute gehe ich langsam durch die Welt, wie ein Rekonvaleszenter.

      Noch später in der Nacht erzählte mir Klaus, dem ich von M. erzählt hatte, dass Friedrich Schorlemmer bis Frühjahr 1990 unter Drohanrufen zu leiden hatte, die vermutlich von der Stasi kamen.

      31. Januar 1991

      Sandra Harding erklärt den Krieg mit den Interessen des militär-industriellen Komplexes. Abgesehen von der Rüstungsproduktion ist da ein riesiges Personal, das sie als »middle class« einstuft. Wäre es tatsächlich zur »Friedensdividende« gekommen, hätte dies eine Umschichtung an die Unterklassen bedeutet. Die Dritte Welt innerhalb der USA schwillt an.

      1. Februar 1991

      Heute kam von Bé Ruys einer der »Occasional Letters« von Ajit Roy, datiert vom September 1990. Er schreibt darin, ich hätte bei der Volksuni den Tod des historischen Marxismus ausgerufen, während er, Ajit, für dessen Unsterblichkeit und Erneuerung eintrete. Ich habe ihm geschrieben, dass ich allenfalls vom Ende des ML gesprochen habe und kräftig an der Erneuerung des Marxismus arbeite. Warum sonst das enorme Opfer an Lebenszeit (und auch, weniger wichtig, Geld) auf mich nehmen, das die Herausgabe der Gefängnishefte Gramscis gekostet hat oder die Arbeit am Neuen marxistischen Wörterbuch.

      2. Februar 1991

      Gelman aus dem ZK ausgeschlossen. Die SU spricht mit vielen Stimmen durch- und gegeneinander. Noch immer zeichnet sich kein neuer geschichtskräftiger Block ab. Zerfall. Nachdem der Markt nicht eingeräumt und gestaltet werden konnte, herrscht der Schwarzmarkt, und gegen ihn wird der KGB eingesetzt.

      In der TAZ vom vergangenen Dienstag lese ich ein vorzügliches »Tischgespräch im Bistro« von F. C. Delius. In der Tradition von Lessings Falk und Jahn und von Brechts Flüchtlingsgesprächen arbeitet er sorgfältig mit dem Material dieser Tage, FAZ-Artikel, Kneipengesprächen. Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit lassen grüßen. Ich folge dem spontanen Impuls und rufe ihn an, bitte ihn, fürs »Argument« zu schreiben.

      In derselben Nummer der TAZ ein interessantes Gespräch von Max Thomas Mehr mit Ernst Tugendhat über den Golfkrieg. Für T sind die USA schuld am Krieg, und dieser ist »das größte Verbrechen seit Hitler«. »Ich rede ganz bewusst antiamerikanisch, wie man ganz bewusst antideutsch sein musste im Zweiten Weltkrieg.« Tugendhats sehr scharfe und scharfsinnige moralphilosophische Analysen kranken daran, dass er nichts von politischer Ökonomie versteht. Er inkriminiert die Waffenlieferungen an den Irak, plädiert damit implizit (vielleicht ohne es zu wollen) für ein kriegstechnologisches Dauerembargo, von dem er wohl auch nicht sieht, dass es, wie im Falle des gegen den Osten gerichteten Embargos, ganz »normale« zivile Exporte behindern würde wegen des Transfers militärisch nutzbarer Technologie. Aber wie dann das Öl bezahlen? Wiederum übersieht er, dass der Irak versucht, die Welt-Ölpreise hochzudrücken, was in einer vom Geld (Kapital) beherrschten Welt auch eine Form staatlich-militärisch aufgebauter ökonomischer Gewalt ist. Gegen diese Öl-Hochpreispolitik stellen sich daher auch die Länder der Dritten Welt, die auf Ölimporte angewiesen sind, Indien zum Beispiel. Krieg zwischen industriellem Kapital und Grundrentenbeziehern, transponiert. Man muss den Weltverhältnissen auf den Grund gehen, deren Irrationalität in Kriegsform umgeschlagen ist. Die Interessen der BRD an der Kapitalisierung der ehemaligen DDR, denen der Krieg in die Quere kommt, blendet T. aus.

      Tugendhat differenziert hinsichtlich der UNO. Dass sie sich »endlich einmal zu einem wirklichen gemeinsamen Schritt durchgerungen hat«, war »für viele Nationen vielleicht etwas besonders Erhebendes«. Aber die UNO hat allen Verhandlungsspielraum dem Westen überantwortet, und viele Länder haben sich in Abhängigkeit von den USA begeben. Diese »wollen die unangefochtene Macht Nummer eins sein«. Welthegemon mit Klienten.

      3. Februar 1991

      Politische Ökonomie des DDR-Anschlusses. – Lutz Hoffmann, Präsident des DIW, analysiert in der gestrigen FAZ sehr strategisch vom Standpunkt des Gesamtkapitalisten die ökonomischen Aspekte des DDR-Anschlusses. Die derzeitige Misere erklärt er der Sache nach mit der Niederlage der Politik Lafontaines, ohne dessen Namen zu nennen: »Durch die lange Weigerung, die Notwendigkeit hoher Infrastrukturinvestitionen – mit öffentlichem wie privatem Kapital – als Preis für