am eigenen Schopfe aus dem Untergang zu ziehen.«
13. Januar 1991 (2)
Truppeneinsatz in Litauen. – »Noch bevor Bagdad in Flammen steht«, wundert (entrüstet?) sich der ZDF-Kommentator. Es soll über zwanzig Tote gegeben haben, der erste ein sowjetischer Soldat mit einem Schuss im Rücken. Eine Parallele zu 1968, als die SU den britischen (?) Krieg gegen Ägypten für den Einmarsch in der ČSFR nutzte. Aber der Unterschied zu beachten: diesmal geht es um den Erhalt der SU selbst, und Gorbatschows Ultimatum, das dem Truppeneinsatz vorausging, verlangte die Wiederherstellung der Verfassungsordnung. Aber was weiß ich, vielleicht handelt es sich um großrussische Tricks, vielleicht spielt die Armee bereits mit. Die Sprecher des Westens, soweit sie heute vom ZDF gezeigt wurden, vermitteln den Eindruck, die Perestrojka sei beendet, eine neue Phase angebrochen. Ins Bild passt Schewardnadses Rücktritt.
Aber seit Tagen liest es sich in der FAZ so: bislang war es im »deutschen« oder auch »westlichen« Interesse, Gorbatschow zu stützen, jetzt steht er im Wege. Dies, weil er sich gegen die Auflösung der SU wendet (wenden muss, auch im Namen des rechtsstaatlichen Universalismus).
Von den überall in der BRD und sonstwo stattfindenden Demonstrationen gegen den Ölkrieg kein Wort im ZDF.
14. Januar 1991
Kommentar eines New Yorker Börsenmaklers zum Öl-Krieg. – »Dies ist der erste moderne Krieg, der nach dem Vorbild der Futures-Märkte geführt wird.« Er will damit sagen, dass morgen der Fälligkeitstermin sein wird.
Litauen. – Der Militäreinsatz anscheinend vorbereitet von langer Hand und nach alten Mustern. Anzeichen: die Ersetzung des Innenministers Bakatin durch Pugo, Schewardnadses Rücktritt, die zeitliche Abstimmung mit dem Vortag des erwarteten Krieges gegen Irak. Jetzt nur mehr von halb so vielen Toten die Rede wie anfangs. Der nach Prunskienes Rücktritt gewählte neue Ministerpräsident über Nacht samt Familie verschwunden … Aber die Armee beherrscht das Feld nicht allein, Verfassungsorgane haben sich eingemischt. Das müsste im Sinne Gorbatschows sein, für den Gewalt nur als Rahmen für einen verfassungsmäßigen Rechtsstaat infrage kommt.
Zu den Preiserhöhungen, die den unmittelbaren Anlass für die Chaotisierung der litauischen Politik gebildet hatten, finde ich in der FAZ die erhellende Bemerkung: »Wer nicht an Devisen gelangt, hat Schwierigkeiten. Deshalb die Proteste in Litauen: Die bis auf das Fünffache angehobenen Preise sind mit einem durchschnittliche Monatslohn, der bei 250 bis 300 Rubel liegt, nicht mehr zu bezahlen, sondern nur mit schwarz getauschter Fremdwährung.«
Die geldzugewandte Seite der Welt. – Gestern ist Lothar Späth zurückgetreten, einer der fähigsten bürgerlichen Politiker. Er hatte sich so viele stattliche Zuwendungen von so vielen Kapitalisten machen lassen, dass es beim besten Willen nicht mehr unter »Persönliches« abgelegt werden konnte. Blendax, Grundig, SEL. Grundig etwa mietete für 500 000 DM eine Concorde für eine Ferienreise Späths nebst sieben Nahestehender in die Karibik. Die Zuwendungen anscheinend immer derart konsumtiv. Ein üppig-feudaler Lebensstil deutet sich an. Die FAZ dezent und spitz zugleich: »Späth konnte sich nicht der Täuschung hingeben, dass er als Person für all die Industriellen und Reichen so anziehend war, dass sie sich seinetwegen in Kosten stürzten.«
15. Januar 1991
Vor-Kriegszeit.
Von Monika Leske, Benno Hirschmann und André Türpe eine Kritik meiner »Fragen zur Frage ›Was ist Philosophie‹«, die mir den Mund verschließt. Geschimpfe, engstirniger Missionarismus, was mir jäh klarmacht, dass die SED nicht nur von oben gebellt hat, sondern dass auch »heilige Überzeugungen« dahintersteckten. Auf »philosophischem« Gebiet taut hier unvermutet ein entwicklungslos eingefrorener Diskurs wieder auf. Ich soll also zum Schimpfen (Verletzen, Heruntermachen) verführt werden und will (wollte?) doch mit diesen Menschen zusammenarbeiten. Warum wollte ich mit ihnen zusammenarbeiten? In der Erwartung, dass es nun möglich würde, objektiv wie subjektiv, die unterlassene Diskussion befreiend nachzuholen, erneuernd in einem gemeinsamen geistigen Universum tätig zu werden. Nun gebärden die andern sich mir gegenüber wie gegen einen Feind, und es stellt sich heraus, wir haben kein gemeinsames Universum.
In der DDR sei »die Philosophie« unterdrückt gewesen; meine Philosophie-Kritik nützlich für ihre Unterdrücker. – Der Mensch: das philosophische Wesen. Philosophie: nach Totalität fragen. – Operative Dialektik nicht als solche erkannt, man begnügt sich mit Dialektik als Gegenstand.
Es lohnt nicht. Die Fehler ergeben kein Profil.
16. Januar 1991
Treffen unserer Ost-West-Forschungsgruppe »Philosophie im NS-Staat«. Monika und Benno feiern den Ast, auf dem sie zwar nicht sitzen, aber gerne sitzen würden. Es verhält sich bei ihnen umgekehrt wie bei dem Fuchs, der die unerreichbaren Trauben sauer nennt. Sie möchten die Unerreichbaren erreichen und nennen sie deshalb schon einmal süß, als kämen sie ihnen dadurch näher. Die Wesenskonzeption erlaubt ihnen die Erschleichung einer objektiven Unschuld. Die marxsche Kritik treffe nicht die »unsterbliche Seele der Philosophie«. Dagegen: Das Denken der Gesellschaft anstelle der prima philosophia.
18. Januar 1991
Krieg. – Verstört über den Krieg und die Mühe, ihn wahrzunehmen. Kriegsberichterstattung im BBC; schon heute früh triumphieren sie in Erwartung eines Blitzsieges. Zu früh. Aber gestern überall Demonstrationen. Erstaunlich die Schüler, die in Bonn und Berlin zu zehntausenden demonstrierten. Die USA, die die größten Interessen am Golf-Öl haben, wollten den Krieg und bekamen ihn. Auch die FAZ trieb zum Krieg. Doch brauchen unsere Regierenden eine ruhigere Umwelt für ihr derzeitiges Hauptprojekt, die kapitalistische Modernisierung und Integration der alten DDR.
Michael Nerlich rief an und sprach über den Misserfolg im Krieg als moralleitenden Faktor. Der (schnelle, das ist wichtig!) Sieger wird recht gehabt haben.
Aber da ist noch eine andere Seite der Sache, nicht die momentan dominierende, aber vielleicht langfristig entscheidend: Nachdem die Zweite Welt aufgegeben hat, sich als Festung dem kapitalistischen Weltmarkt und seinen Hegemonialmächten zu verschließen – wie könnte eine Dritte Welt da sich halten? Die UNO wird von der Kräfteverschiebung blindlings eingeholt: sie findet sich unversehens als Form für westlichen Inhalt. Eine List der Vernunft wäre es – aber das ist zu schön, um wahr zu sein –, würde die Form auf diesem Umweg letztlich doch noch bestimmend.
*
Radiodiskussion (in DS Kultur) mit Eberhard Fromm, Fiedler und Kapferer über Feindbilder der DDR-Philosophie. Kapferer hat lange vor dem Ende der DDR zu forschen begonnen: die Bornierung seiner Forschung kommt jetzt zupass, hat er doch den alten Hauptfeind der DDR-Ideologie weggelassen, das unreglementierte Denken, zumal das im Anschluss an Marx. Heute stört dieses die anderen schon wieder. Daher müssen die abgestandenen und mehr oder weniger reaktionären Positionen jetzt den Adelstitel erhalten, Hauptfeinde der DDR-Ideologie gewesen zu sein.
20. Januar 1991
Es arbeitet in der deutschen Sprache. Zwei Bruchstücke: FNL = die »fünf neuen Länder«; die »Wessies« als »Besserwessies«.
22. Januar 1991
Jo Rodejohann fordert mich auf, einen Appell von 166 russischen Intellektuellen zu unterstützen, worin es heißt, dass »der Präsident und das Parlament die Demokratie verraten«. In Reaktion auf den Armee-Einsatz in Vilnius: »Der Umsturz hat bereits begonnen. Wenn er gelingt, erwarten uns wieder Lager, Terror, Angst, Hunger und Ruin.« – Ich finde den u.a. von Juri Afanasjew unterschriebnen Text maßlos, ein Dokument von Realitätsverlust. Jo verharmlost, wenn er ihn »hart und bitter« nennt.
23. Januar 1991
Krieg. – Seit einer Woche grausige Unterhaltung, elektronische Spielhalle, rund