sondern die politische Ökonomie« hat das Sagen gehabt. Unter letzterer versteht er mit Anthony Downs »Neuer politischer Ökonomie« (An Economic Theory of Democracy, 1957) ein System, das darauf basiert, »dass der wirtschaftspolitische Entscheidungsträger nicht die gesellschaftliche Wohlfahrt [maximiert], sondern seinen politischen Nutzen, der vor allem in der Wahrscheinlichkeit besteht, wiedergewählt zu werden«. Das geht gegen Helmut Kohl.
Mit mangelnder Infrastruktur erklärt Hoffmann das bis dato festzustellende Ausbleiben des großen Kapitals. Interessant, wie er die Folge der Einschnitte sieht. Währungsunion: »Im Grunde handelte es sich um den Vorschlag einer radikalen Handelsliberalisierung, verbunden mit einer drastischen Aufwertung.« Die DDR-Wähler wollten das Westgeld. Was ihnen »nicht bewusst war«, waren die Folgen für die Arbeitsplätze. Nur die Subventionierung der Exporte ins alte RGW-Gebiet8 milderten den ökonomischen Kollaps für eine Weile noch etwas ab.
»Extrembeispiel« für einen Sieg der »auf Stimmenmehrheit zielenden politökonomischen Rationalität« mit chaotischen Folgen ist für ihn Gorbatschow.
In den »Fünf Neuen Ländern«, kurz »FNL«, ist laut FAZ die Verbitterung besonders groß bei den Abgeordneten der letzten Volkskammer und den Mitgliedern der Regierung de Maizière. Sie hatten die Anschlusspolitik gemacht und fanden sich über Nacht auf dem politischen Abstellgleis. Empörung darüber, zum bloßen Steigbügelhalter degradiert zu sein. Man sieht nachträglich auch klar, dass de Maizières Sturz seit langem »für den Herbst nach den Bundestagswahlen« geplant gewesen ist. Von »Politik wie mit der Neutronenbombe« soll man vor allem in kulturpolitischen Kreisen sprechen: der Westen nicht an lebendiger Kultur, sondern an den Immobilien interessiert; für ihn nur neuer Raum hinzugekommen, ein Terrainkalkül, für welches die DDR-Bevölkerung nun 40 Jahre gelebtes Leben auszulöschen habe.
5. Februar 1991
Neuer Tiefenrekord des US-Dollars. »Pessimisten erinnern an die langwierige Depression nach 1929 und halten nach dem Zusammenbruch des Sozialismus den Kollaps des Kapitalismus, ausgelöst durch eine schwere Krise des Finanzsystems, für möglich.« (Gerald Braunberger im Wirtschaftsleitartikel der FAZ) In den USA sind die Steuereinnahmen wegen der Rezession (wie sie die Krise entnennen) um 87 Mrd USD unter den Erwartungen geblieben. Die Sanierung der Sparkassen wird noch über 100 Mrd USD kosten. Aus dem erhofften New Deal mit Sozialinvestitionen in Verkehr, Gesundheit und Bildung wird nichts.
In ihrem Editorial-Entwurf fürs nächste »Argument« lässt Nora Räthzel uns bereits mitten im Dritten Weltkrieg sein. Eines von vielen Anzeichen der Unsicherheit und Verwirrung. Wir wollen klar dagegen sein und erfahren uns verstrickt.
Die FAZ dagegen auf ganz hohem Ross. Gestern zeichnete Reißmüller im Leitartikel Serbien »als Festung des Kommunismus, aus der sich vielleicht eines Tages im Zusammenwirken mit einer wieder zur alten Ordnung gebrachten Sowjetunion der Leninismus-Stalinismus in der östlichen Hälfte Europas aufs Neue ausbreiten ließe. Zu diesem Zweck lassen sie ihre Panzer auffahren. Die ersten Schüsse würden einen Krieg auf mitteleuropäischem Boden eröffnen.« – Man will vollends aufräumen.
Verzweifelt bemüht sich Gorbatschow um einen neuen Unionsvertrag. Ich habe früher (wie er) übersehen, dass dies zu den Vorbedingungen der sozialökonomischen Umgestaltung gehört hätte. Ich habe immer verstanden, dass die politischen Reformen den ökonomischen vorausgehen müssten (natürlich Wechselverhältnis der Reformetappen in Politik und Ökonomie), aber auf die inneren Reformen blickend vergessen, dass auch ein solches »Innen« bei Lockerung der äußeren Zwangsfesseln erst geschaffen werden müsste. Jetzt wirkt Gorbatschow wie ein Gefangener seiner Gewaltapparate.
Lese nun erst, was Gorbatschow am 28. November 90 bei einem Treffen mit »Kulturschaffenden« (u.a. mit Jewtuschenko) gesagt hat: Lockere Plauderei, bisschen philosophischer Würdezierrat (»die alten Griechen hatten wieder einmal recht: alles fließt, alles bewegt sich«). Dazwischen Protokollsätze wie Notschreie (»das ist eine schleichende Konterrevolution«) und jenes Bekenntnis zum Sozialismus, von dem ich seinerzeit in der Presse gelesen hatte, das er aber dadurch wieder in Luft auflöst, dass er sich mit dem spanischen Regierungschef Felipe González vergleicht, »einem ebenfalls überzeugten Sozialisten«. Zum Privateigentum sagte er: »Ich habe mich immer für Marktwirtschaft ausgesprochen und tue das weiter. Doch obwohl ich für Marktwirtschaft bin, akzeptiere ich beispielsweise kein Privateigentum an Grund und Boden. Machen Sie mit mir, was Sie wollen – ich akzeptiere es nicht. Pacht – selbst für hundert Jahre, sogar mit dem Anspruch auf den Verkauf und die Vererbung der Pachtrechte – bitte schön.« Das schützt selbstwirtschaftende Bauern und geht gegen Bodenspekulation. Ansonsten spricht sich Gorbatschow für Privateigentum in der Produktion aus, glaubt aber nicht, dass es dominieren wird bzw. dass seine Dominanz vom Volk hingenommen würde. Sonderbares Wischiwaschi: »Durch verschiedene Formen des Aktienbesitzes, durch Pacht und dann vielleicht durch vollen Erwerb wird der Betrieb zum Volkseigentum gemacht. Man (?) soll den Menschen (?) dieses Eigentum geben (?). Mögen sie es verwalten und über ihre (?) Produktion verfügen (?).« a) Wer ist dieses »Man«?; b) »Die Menschen« – welche? c) Verkaufen nicht = geben; d) Die Produktion eines Betriebs nicht = »ihre« (der Privateigentümer) Produktion; fehlen die Arbeiter; e) der Staat wird die Eigentümer (wie alle übrigen) doch wohl zur Kasse bitten, also einen Teil »ihrer Produktion« in Steuern verwandeln, über die sie mitnichten verfügen.
Dann spricht Gorbatschow von Grenzen der Veränderung, Unantastbarkeiten, die er »letzte Bastion« nennt: »da darf man um den Tod nicht weichen, wie vor Moskau, wie vor Stalingrad.« Was er meint, ist die multinationale Gesellschaft der Sowjetunion. Soll etwa das Kriegspotenzial der Supermacht SU unter Nachfolgestaaten aufgeteilt werden?
Auf die Genese der Perestrojka zurückblickend, erwähnt er einen Spaziergang mit Schewardnadse im Dezember 1984, wo sie sich darüber verständigt haben, dass »alles verfault« ist. Er nennt keinen anderen. Sah also den Rücktritt Schewardnadses wohl auch nicht voraus.
6. Februar 1991
Gestern kam ein junger Geophysiker (Lehmann) aus der vormaligen DDR, der seit vier Jahren in Leningrad studiert, in meine Sprechstunde. Er will zur Philosophie überwechseln. Erfährt sich im Vergleich zu den sowjetischen Studenten als mathematisch unbegabt, obwohl auch er von einem Spezialgymnasium kommt. Als sein Stipendium auf DM umgestellt wurde, kam das einer Verdreißigfachung gleich. Inzwischen sogar das Fünfzigfache. Durch den Einzug der 50- und 100-Rubelscheine sei das Vertrauen in die Währung vollends zusammengebrochen. Er glaubt nicht, dass diese Maßnahme irgendwie den Schwarzhandel trifft. Studieren würde er gerne bei Merab Mamardaschwili, wenn dieser nicht gestorben wäre. So höre ich zum zweiten Mal von diesem Tod, an den ich nicht glauben mag.
Seit der Annexion Kuwaits im August 1989 sind 5–10 Mrd USD auf schweizer Banken verlagert worden. Bis September 1989 waren es schon 2,3 Mrd USD aus dem Nahen Osten. Dafür musste man die Wachstumsannahmen von 2 auf 1 Prozent halbieren.
In der FAZ ein Artikel des Kölner Historikers Otto Dann über Ernest Gellners Nations and Nationalism von 1983, durchsetzt mit ›Gramscismen‹, ohne Gramsci zu nennen. Im Kern geht es um das Verhältnis von »Kulturgesellschaft« und »politischer Gesellschaft« als Schlüsselfrage der Nationalstaatsbildung. Mit der Verallgemeinerung der Schriftkultur im Zuge der Industrialisierung homogenisiert sich aus der agrargesellschaftlichen Heterogenität heraus die Kultur. Für Gellner ist dies der entscheidende Akt bei der Nationbildung. Die Nation ist nichts Naturales, betont er, basiert nicht auf einem Volk, sondern wird durch den Nationalismus erst geschaffen. Die Intellektuellen als Träger der Schriftkultur spielen dabei eine entscheidende Rolle. Gellners These: Nationalismus ist die adäquate Form für Kapitalismus. Dann verweist auf Benedikt Anderson, Imagined Communities, 1983. Für Otto Dann und die FAZ ein gefundenes Fressen, den Nationalismus aus dem Schatten des NS zu holen. Friedrich Meineckes »Kulturnation« wird wieder ausgegraben, ihre Kongruenz mit der »Staatsnation« zur strategischen Schlüsselposition erklärt.
9. Februar 1991
Enzensbergers Artikel über Saddam Hussein als »Hitlers Wiedergänger« (im »Spiegel« dieser Woche) führt