Hebb ist gemeint, dass aktive Synapsen (die Verbindungen zwischen den Neuronen) sensibler werden, und dass außerdem neue Synapsen wachsen und dickere neuronale Schichten bilden. Taxifahrer beispielsweise, die das ganze Gewirr der Straßen Londons auswendig kennen müssen, haben zum Ende ihrer Ausbildung einen dickeren Hippocampus – das ist der Teil des Gehirns, der für die visuell-räumliche Erinnerung zuständig ist (Maguire et al., 2000). In gleicher Wiese entwickeln Menschen, die regelmäßig Achtsamkeit praktizieren, eine dickere Schicht von Neuronen in der Insula – eine Region, die aktiviert wird, wenn wir uns mit unserem Körper und unseren Gefühlen verbinden – und in Teilen des präfrontalen Kortex (an der Vorderseite des Gehirns), der die Aufmerksamkeit steuert (Lazar et al., 2005).
Die Einzelheiten sind komplex, das Ergebnis jedoch ist einfach: Wie du deinen Geist benutzt, wird dein Gehirn verändern – zum Guten oder zum Schlechten.
Ein Sprichwort sagt sinngemäß, dass der Geist die Form dessen annimmt, worauf man ihn bettet. Wenn wir unseren Geist beispielsweise auf Sorgen, Selbstkritik und Wut „betten“, wird unser Gehirn nach und nach genau diese Form annehmen und neuronale Strukturen und Dynamiken entwickeln, die Angst, ein geringes Selbstwertgefühl und Gereiztheit mit sich bringen. Wenn wir unseren Geist jedoch regelmäßig auf der Überzeugung betten, dass es uns jetzt gerade gut geht, dass wir das Gute in uns selbst sehen und dass wir loslassen können – drei der Übungen in diesem Buch –, wird unser Gehirn nach und nach die Form von ruhiger Stärke annehmen, von Selbstvertrauen und innerem Frieden.
Unser Gehirn verändert sich, daran können wir es nicht hindern. Die Frage ist nur: Sind es die Veränderungen, die wir uns wünschen?
Die Praxis ist der Weg
Hier kommt die Praxis ins Spiel. Praxis bedeutet schlicht und ergreifend, regelmäßig etwas zu tun – in Gedanken, Worten oder Taten –, um positive Qualitäten zu verstärken und negative Eigenschaften zu schwächen. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass das Achtsam sein (22. Kapitel) die Aktivität des linken präfrontalen Kortex steigert und dadurch die Stimmung hebt (weil dieser Teil des Gehirns die negativen Emotionen bremst; Davidson, 2004). Achtsamkeit verringert zudem die Aktivität der Amygdala, der Alarmglocke des Gehirns (Stein, Ilves-Deliperi und Thomas, 2008). In gleicher Weise unterstützt Selbstmitgefühl (3. Kapitel) die Resilienz und löst negative Gedankenschleifen auf (Leary et al., 2007; Neff, 2009).
Die Praxis jätet das Unkraut und pflanzt Blumen im Garten deines Geistes. Dadurch verschönert sich dein Garten und du wirst zu einem besseren Gärtner: Du kannst deine Aufmerksamkeit besser ausrichten, klarer denken, besser mit deinen Gefühlen umgehen, dich motivieren, du wirst widerstandsfähiger und fährst gelassener in der Achterbahn des Lebens.
Die Praxis zeitigt zudem Effekte, die über den Wert der jeweiligen Übung, mit der du dich gerade beschäftigst, hinausgehen. Jede Praxis ist ein Akt der Güte dir selbst gegenüber, denn allein durch das Üben behandelst du dich selbst mit Respekt – was besonders wirkungsvoll und heilsam ist, wenn du als Kind oder Erwachsener das Gefühl hattest, dass andere dich nicht respektiert oder sich nicht um dich gekümmert haben. Zudem bist du aktiv statt passiv – das steigert Optimismus und Resilienz und verringert das Risiko für Depressionen. In Zeiten, in denen du dich durch äußere Umstände – finanzielle Schwierigkeiten oder zwischenmenschlich Konflikte – unter Druck gesetzt fühlst, ist es hilfreich, zumindest einen Bereich im Leben zu haben, in dem du dir wie der Hammer und nicht wie der Nagel vorkommst.
Letztendlich ist die Praxis ein Prozess der persönlichen Transformation, der nach und nach die Wurzeln der Gier, des Hasses, des Kummers und der Täuschung – im weitesten Sinne – entfernt und sie durch Zufriedenheit, Frieden, Liebe und Klarheit ersetzt. Manchmal wird eine innere Veränderung spürbar, und manchmal entdeckst du einfach nur die wunderbaren, schönen Dinge, die immer schon in dir waren, wie deine natürliche Wachheit zum Beispiel, deine Güte und dein liebendes Herz.
Wie dem auch sei, du begibst dich damit in einen Prozess, in dem du etwas entwickelst, was man als „Gehirn eines Buddha“ bezeichnen kann – ein Gehirn, das die Ursachen und das Ende des Leidens zutiefst versteht. Die Wurzel des Wortes „Buddha“ bedeutet immerhin „zu wissen, zu erwachen“. (Ich möchte anmerken, dass ich hier den Begriff „Buddha“ als eine allgemeine Metapher verwende, die sich nicht auf die Person Buddhas, des großen Lehrers, bezieht.) In diesem umfassenden Sinne entwickelt jeder, der sich dem psychologischen Wachstum oder einer spirituellen Praxis widmet – sei er nun Christ, Jude, Muslim, Hindu, Agnostiker, Atheist oder nichts von alledem –, das Gehirn eines Buddha und die damit verbundenen Qualitäten des Mitgefühls, der Tugend, der charakterlichen Stärke, der Achtsamkeit und der Weisheit.
Das Gesetz der kleinen Dinge
Wenn die Praxis sehr aufwändig ist, werden die meisten Menschen (ich eingeschlossen) lieber darauf verzichten. Deshalb bestehen die Übungen in diesem Buch aus kurzen, über den Tag verteilten Lektionen – wie Finde Schönheit (17. Kapitel) – oder dem Etablieren einer allgemeinen Haltung oder Perspektive wie Lass die Angst vor Unvollkommenheit los (46. Kapitel) oder Nimm es nicht persönlich (48. Kapitel).
Die Übungseinheiten sind für sich genommen meist sehr kurz, aber sie summieren sich. Das ist das Gesetz der kleinen Dinge: Mentale Aktivitäten können langsam kumulieren und zu Veränderungen der neuronalen Struktur führen. Deshalb können viele kleine Dinge dein Wohlbefinden verringern – und viele kleine Dinge können die Lage wieder verbessern. Es ist wie beim Sport: Wenn du einmal läufst, Pilates übst oder Gewichte hebst, bemerkst du keine sofortige Veränderung – wenn du aber konstant trainierst, wirst du Muskeln aufbauen. In gleicher Weise werden kleine regelmäßige Übungen den „Muskel“ deines Gehirns trainieren. Basierend auf der neuesten Hirnforschung kannst du wirklich darauf vertrauen, dass sich die Praxis auszahlen wird.
Zur Verwendung dieses Buches
Aber du musst dranbleiben. Deshalb ist es hilfreich, wenn du dich auf jeweils eine Übung konzentrierst. Das Leben ist heutzutage so geschäftig, da ist es eine Erleichterung, sich einmal nur einer Sache zu widmen.
Es muss natürlich die richtige „eine Sache“ sein. Seit 40 Jahren praktiziere ich verschiedene Übungen – zuerst als junger Mann auf der Suche nach Glück, dann als Ehemann und Vater, der mit den Anforderungen von Arbeit und Familie umgehen musste und heute als Neuropsychologe und Meditationslehrer – und bringe sie anderen nahe. Für dieses Buch habe ich die Übungen ausgewählt, die die neuronalen Substrate, die Grundlagen für Resilienz, Erfülltheit, Wohlbefinden und innerem Frieden schaffen. Keine dieser Übungen habe ich erfunden: Es geht hier um die fundamentalen Dinge, die wir uns jedes Jahr aufs Neue vornehmen – und die wir so nur selten umsetzen. Genau dieses Umsetzen aber ist es, das hier den Unterschied macht.
Du kannst diese Übungen auf vielerlei Arten praktizieren. Beispielsweise kannst du dich ganz einer bestimmten Übung widmen, die dir besonders entspricht. Oder du konzentrierst dich auf einen Teil des Buches, der auf bestimmte Bedürfnisse in dir antwortet: Wenn du zum Beispiel sehr selbstkritisch bist, kann dir der erste Teil helfen, in dem du lernst, gut mit dir selbst umzugehen. Wenn du ängstlich und leicht reizbar bist, fühlst du dich vielleicht vom fünften Teil angesprochen, in dem es um inneren Frieden geht. Du kannst abseits von der Reihenfolge in dem Buch stöbern und dich dem widmen, das dich spontan anzieht. Oder du nimmst dir pro Woche eine Übung vor und schenkst dir damit ein transformierendes „Jahr der Praxis“.
Welchen Ansatz du auch wählst, meine Empfehlung ist, dass du dein Üben möglichst einfach hältst und dich immer auf eine bestimmt Übung konzentrierst – ob es nun in einer bestimmten Situation (z. B. einem schwierigen Gespräch mit deinem Partner, bei einem wichtigen Projekt im Büro, während einer Meditation), während des ganzen Tages oder länger ist. Während du dich auf eine Übung konzentrierst, wirst du vielleicht feststellen, dass andere Übungen und ihre positiven Effekte in deinem Hinterkopf „mitwirken“. Wenn du beispielsweise die Übung Nimm es nicht persönlich (48. Kapitel) praktizierst, kann Nimm Zuflucht (28. Kapitel) hilfreich im Hintergrund dabei sein.
Das tägliche Üben ist unerlässlich, und je öfter du dir deine jeweilige Übung ins Bewusstsein rufst, desto nachhaltiger