Georges Simenon

Die Phantome des Hutmachers


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kleinste der Blagen, der einzige Junge, hatte große schwarze, mandelförmige Augen und immer noch sein Nachthemd an.

      Es waren komische Leute. Sie aßen schon morgens Wurst. Kachoudas wandte ihm den Rücken zu, eine Schulter höher als die andere.

      Monsieur Labbé würde auf ihn warten. Er hatte immer dies oder das zu tun. Die Zeitungen, aus denen er die Wörter und Buchstaben ausgeschnitten hatte, waren schon verbrannt. Er brachte Louise seinen Anzug vom Vortag, damit sie ihn aufbügelte, schließlich war er äußerst gepflegt, seine Kleidung stets aus feinem Tuch, seine Schuhe maßgefertigt.

      Es hatte angefangen mit dem Gerumpel von ein paar Karren und mit vereinzelten Stimmen, und jetzt war es vom einen Ende der Straße bis zum anderen angeschwollen zum ohrenbetäubenden Radau jeden Samstags. Schon im Voraus wusste er, welcher Geruch nach frischem Gemüse, nach befeuchtetem Kohl, nach Hühnern und Kaninchen ihm in die Nase stiege, sobald er die Tür zum Laden öffnete.

      Eine ganze Weile musste er noch warten, das Auge am Spalt, bis Kachoudas endlich aus dem Haus kam und er es ihm nachmachte und über die Köpfe der Frauen hinweg rief:

      »Guten Morgen, Kachoudas.«

      Die dürren Schultern zuckten, der Mann drehte sich um, öffnete den Mund, brauchte einige Sekunden, ehe er hervorbrachte:

      »Guten Morgen, Monsieur Labbé.«

      Für ihn musste das unfassbar sein, fast eine Halluzination – nicht zuletzt wohl aufgrund des Nebels. Alles ging wie jeden Morgen vonstatten, jedenfalls wie an jedem anderen Samstag: Der Hutmacher war frisch rasiert, sorgfältig gekleidet, würdevoll entfernte er von seinem Auslagefenster die Tafeln, die er eine nach der anderen hineinbrachte in die dafür zurechtgezimmerte Nische hinter der Tür.

      Das Pflaster war noch nass, das Wasser stand in Pfützen entlang der Trottoirs. Die Metzgerei neben Kachoudas ließ das Licht an.

      Valentin kam um halb neun, mit roter Nase, und musste sich schnäuzen, kaum dass er im Laden war.

      »Hab mir einen kleinen Schnupfen geholt«, sagte er.

      In der ohnehin überhitzten Luft der Hutmacherei würde er ihn großziehen können. Monsieur Labbé zog seinen Mantel an, nahm seinen Hut.

      »Ich bin in einer Viertelstunde zurück.«

      Er ging Richtung Markthalle und wurde von vielen gegrüßt, denn er stammte aus La Rochelle, wo er auch immer gelebt hatte. Er wählte den Briefkasten in der Rue des Merciers – in dem Hin und Her der ganzen Leute lief er an diesem Morgen keine Gefahr, bemerkt zu werden. Dann, so wie er es samstags gerne tat, tauchte er ein in das Getümmel der Markthalle, schlenderte vorbei an den Ständen für Fisch und Krustentiere.

      Erst auf dem Heimweg kaufte er sich an der Ecke zu seiner Straße die Zeitung und steckte sie sich in die Tasche, ohne allzu neugierig einen Blick darauf zu werfen.

      Eine Bäuerin hatte ihren Sohn mitgebracht, dem Valentin, Taschentuch in der Hand, Mützen anprobierte. Es war der Tag dafür. Monsieur Labbé ging Mantel und Hut ablegen, sagte durch den Türspalt zu Louise:

      »Kaufen Sie Langusten. Die kleine Alte aus Charron hat schöne. Madame hat nicht gerufen?«

      »Nein, Monsieur.«

      Er würde unten zuerst seinen Anteil Langusten essen, dann Mathildes im Zimmer. Es war ein Glück, dass die frühere Haushälterin, Delphine, zu ihrer Tochter auf die Île d’Oléron gezogen war, wusste doch Delphine, die zwanzig Jahre lang bei ihnen gearbeitet hatte, dass Mathilde nichts mochte, was aus dem Meer kam.

      Er hätte es besser treffen können als mit Louise. Eine ganze Menge hätte sich angenehmer einrichten lassen. Ja, er fing an, das dicke Mädchen zu hassen. Nie fragte sie etwas. Man hatte keinen Schimmer, was sie dachte. Dachte sie womöglich gar nicht?

      Er mochte es nicht, dass sie im Haus schlief. Delphine, die Kinder hatte, war sofort nach dem Abendessen nach Hause gelaufen auf die andere Bahnhofseite. Anfangs hatte auch Louise in der Stadt geschlafen. Dann hatte sie jedoch erklärt, wegen der Morde an den alten Frauen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr das Haus verlassen zu wollen.

      Wieso hatte er es akzeptiert, ihr im Ersten ein Zimmer herzurichten? Hatte er da noch vielleicht so eine vage Vorstellung im Hinterkopf gehabt? Wenn man nicht allzu genau hinguckte, war sie ganz appetitlich. Jetzt aber, da er durch die Trennwand hindurch hörte, wie sie ihre Toilette verrichtete, konnte er nicht darüber hinwegsehen, dass sie ungepflegt war. War er mal in ihr Zimmer gegangen, so hatte ihn der Geruch dort angeekelt, genauso wie die auf einem Stuhl herumliegende Wäsche.

      Wahrscheinlich war sie nicht gefährlich, sie stellte aber trotzdem eine Komplikation dar, und um Komplikationen zu umgehen, hatte er schon genug getan.

      Man würde da schon sehen.

      Er wechselte das Jackett – zum Arbeiten trug er stets ein altes –, ging ins Hinterzimmer und zündete den Kocher an, den er zum Dämpfen der Hüte nutzte.

      Mit dem kleinsten Schlüssel an seinem Bund schloss er einen Wandschrank auf. Von allergrößter Bedeutung waren diese Schlüssel, glatt waren sie, glänzten wie Werkzeuge, immer trug er sie in derselben Tasche, und nie vergaß er, sie auf den Nachttisch zu legen, ehe er ins Bett ging.

      Ganz hinten in dem Schränkchen hing eine Kordel von der Decke, an der er zwei-, dreimal kurz zog.

      Valentin, noch immer mit der Kundin und dem kleinen Jungen beschäftigt, machte ein paar Schritte, um ihm mitzuteilen:

      »Madame ruft nach Ihnen, Monsieur Labbé.«

      Denn indem er an der Kordel zog, setzte er einen Mechanismus in Gang, der im ersten Stock auf den Fußboden klopfte, genau wie früher, als Mathilde, wenn sie ihn brauchte, mit dem Stock auf den Fußboden geklopft hatte.

      »Ich geh schon«, verkündete er seufzend.

      Das Schränkchen wieder zumachen, die Schlüssel zurück in die Tasche stecken. Merkwürdig: In Kachoudas’ Geschäft war der kleine Schneider damit beschäftigt, Maß zu nehmen bei einem kleinen Jungen, den seine Mutter mitgebracht hatte. Ein kleiner Junge und eine Mutter auf jeder Straßenseite und, noch merkwürdiger, aus demselben Dorf.

      Labbé verschwand auf der Wendeltreppe, wo Valentin seine Schritte hören konnte. Die Tür ging auf und wieder zu. Die Vorhänge verhinderten, dass man hereinsah. In ihrer Küche war Madame Kachoudas, die nie an die Nachbarn von gegenüber dachte, mit in die Luft gereckten Armen dabei, ein Kleid über ihr Unterkleid zu streifen, denn um es wärmer zu haben, zogen sich diese Leutchen in der Küche an und wuschen sich dort sogar. Für die Mädchen und den Jungen stellte man eine Emailleschüssel auf einen Stuhl.

      Er legte ein weiteres Holzscheit auf das Feuer, setzte sich, zündete seine Pfeife an, und erst dann schlug er die Zeitung auf.

       Der Würger hat ein neues Opfer gefunden.

      Ist es nicht seltsam, festzustellen, wie die Wörter die Realität verzerren? Der WÜRGER! Und das zu allem Überfluss in Großbuchstaben! Als würde man, zum Beispiel, als Würger geboren. Als wäre es, kurz gesagt, eine Berufung! Nur dass die Wahrheit so ganz anders aussah! Immer machte ihn das ein bisschen ärgerlich. Und dieser Ärger hatte ihn sogar dazu gebracht, der Zeitung den ersten Brief zu schreiben. Seinerzeit hatte es geheißen:

       Ein gefährlicher Verrückter irrt in der Stadt umher.

      Er hatte erwidert:

       Nein, Monsieur, einen Verrückten gibt es nicht. Sprechen Sie nicht von etwas, das Sie nicht kennen.

      Trotzdem, der kleine Jeantet war nicht dumm. Während die Polizei die Stadtstreicher und die Matrosen auf Kneipentour einsammelte, auf gut Glück Leute auf der Straße anhielt und nach ihren Papieren verlangte, trug der Reporter eine Beweisführung zusammen, die etwas für sich hatte. Nach dem dritten Opfer, Mademoiselle Lange, der Kurzwarenhändlerin aus der Rue Saint-Yon, und nachdem die Überwachung bereits mit Anbruch der Dunkelheit eingesetzt hatte, schrieb er:

       Es ist falsch, sich