Achim Bühl

Die Shoah


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und Mittäter. Was unterscheidet, so ist zu fragen, die deutsche Geschichte von der west- und osteuropäischen, was differenziert den deutschen Antisemitismus von der Judenfeindschaft anderer Länder, zumal sich der Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, während des Ersten Weltkriegs sowie in den 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre in zahlreichen Ländern qualitativ verstärkte. Eine erste Antwort liegt im Kampf relevanter deutscher Bevölkerungsteile gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden, die in den Jahren 1811/1812 auf erbitterte Gegenwehr stieß, als der preußische Kanzler Hardenberg die »Judenemanzipation« auf den Weg brachte. Zwar blieb den Juden der Staatsdienst verwehrt, gleichwohl umfasste die Liste der Gegner der Judenemanzipation die Crème de la Crème der preußischen Gesellschaft. Gewiss war die Gegnerschaft gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden auch in anderen Ländern erheblich, die deutsche Spezifik lag indes darin, dass bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts bedingt durch die späte deutsche Nationalstaatsbildung das Völkische einen hohen Stellenwert einnahm und in der zweiten Hälfte zum Rassischen mutierte. Im ideologischen Konstrukt der Judenhasser nahm »der Jude« die Rolle der »Gegenrasse« ein, des kulturellen Zerstörers wie biologischen Verunreinigers deutschen Blutes. Auf Basis einer biologistisch-völkisch orientierten Nationalstaatszugehörigkeit war der Jude der »Nicht-Deutsche«, ein »fremdes Element«, das im historischen Kontext des Imperialismus den Volkskörper im »Kampf ums Dasein« schwäche.

      Der Kampf gegen die »Judenemanzipation« blieb in der jüngeren deutschen Geschichte ein Kontinuum. Gegnerische Stimmen einer rechtlichen Gleichstellung der Juden ebbten nicht ab, als das Deutsche Kaiserreich im Jahr 1871 den Juden die volle Gleichberechtigung gewährte und diese nunmehr auch zum Staatsdienst zuließ. Nichtakzeptanz der Juden als Deutsche mischte sich von nun an hochgradig mit Sozialneid sowie der Bereitschaft, den Juden Akzeptanz wie gesellschaftliche Anerkennung schuldig zu bleiben. Die im Unterschied etwa zu Frankreich verspätete wie von oben erfolgte Gründung des Deutschen Reichs etablierte einen kapitalistischen Nationalstaat, der im Zeitalter des Imperialismus seinen »Platz an der Sonne« auch mit kriegerischen Mitteln wie dem Ersten Weltkrieg zu erringen gedachte und dessen Aggressivität im Vorfeld des Kriegsgeschehens im kolonialen Völkermord an den Herero und Nama zum Ausdruck kam. Im wilhelminischen Kaiserreich mischten sich Rassenlehre, Sozialdarwinismus, Eugenik, Kolonialrassismus, Antislawismus und Antisemitismus zu einem integralen, sich wechselseitig verstärkenden Gemisch. Die Gewaltförmigkeit dieses »ideologischen Gebräus« richtete sich gegen den imaginierten »Fremden« und suggerierte die Unausweichlichkeit eines »Rassenkampfs«, die Notwendigkeit einer »Ausmerzung rassisch Minderwertiger«, die Unverzichtbarkeit von »Zwangssterilisierung«, »Euthanasie« und »Aufnordung« sowie das Gebot der Führung eines »Kampfs um Lebensraum«, damit die höherwertige »arische Rasse« vor dem Untergang bewahrt werde.

      Der deutsche Antisemitismus unterschied sich von der Judenfeindschaft anderer Länder dadurch, dass er zur Zeit der Romantik und erst recht ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in entscheidendem Maß eliminatorischer Antisemitismus war, wenngleich zu diesem Zeitpunkt noch maßgeblich Judenhass des Wortes. Für völkische Autoren wie Ernst Moritz Arndt (1769–1860) waren Juden »Ungeziefer« und »Pest«, für Hartwig Hundt-Radowsky (1780–1835) ein »physisches und moralisches Gift« sowie »beschnittene Vampyre«, die »zusammen getrieben, und wie Raubthiere todt geschossen« werden sollten, für den Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773–1843) war »das wichtigste Moment in dieser Sache, dass diese Kaste mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde«. Richard Wagner (1813–1883) sprach von »gewaltsamer Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes« und faselte von einer »großen Lösung« der »Judenfrage«, der Philosoph Eugen Dühring (1833–1921) sah die »völkerrechtliche Internierung« der Juden vor und präferierte eine »Lösung der Judenfrage«, die in »Einschränkungen von Ausnahmenatur bestehen« müsse, der Theologe und Orientalist Paul de Lagarde (1827–1891) vertrat die Ansicht, dieses »wuchernde Ungeziefer« sei »zu zertreten« und brachte mit folgendem Satz das Wesen des eliminatorischen Antisemitismus auf den Punkt: »Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.« Der junge Adolf Hitler stand in dieser Traditionslinie des Vernichtungsantisemitismus als er am 16. September 1919 in einem Brief schrieb: »Der Antisemitismus muss führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte des Juden (…). Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung des Juden überhaupt sein.« Der Vorsatz die Juden zu vernichten, der in Hitlers Denken das Zentrum bildet, war keineswegs singulär, sondern spiegelte die Spezifik des deutschen eliminatorischen Antisemitismus, der nach dem Ersten Weltkrieg das Vakuum politischer wie ideologischer Desorientierung relevanter Bevölkerungsschichten füllte.

      Radikale Antisemiten gab es unstrittig auch in anderen Ländern wie etwa ein Édouard Drumont (1844–1917) in Frankreich. Im Unterschied zu Westeuropa verankerte sich der eliminatorische Antisemitismus indes in Deutschland in weiten Teilen der Gesellschaft und verfügte in Gestalt namhafter Publizisten, Wissenschaftler und Schriftsteller über eine umfangreiche Trägerschaft. Nahezu endlos ist die Liste der Zitate, die angeführt werden könnten, um den Sachverhalt zu belegen, dass am Ende des 19. Jahrhunderts große Teile der deutschen Zivilgesellschaft vom Vernichtungsantisemitismus erfasst waren und um den Nachweis zu führen, dass dieser gerade in ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite weite Verbreitung fand. Gewiss gab es auch in Frankreich einen Kreis entschiedener Judenfeinde, die sich nicht zuletzt bei der Dreyfus-Affäre Gehör verschafften, doch es ist kein Zufall, dass am Ende des Hergangs der jüdische Offizier rehabilitiert wurde, während am Beginn der Weimarer Republik die Ermordung von Rosa Luxemburg und ihre Beschimpfung als »Judenhure« stand. Einwenden ließe sich, dass in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Antisemitismus in Gestalt zahlreicher Pogrome mit Abstand gewalttätiger war als in Deutschland, sodass die Wahrscheinlichkeit eines antijüdischen Genozids hier viel größer war. Im russischen Zarenreich existierte indes keine starke, etablierte Zivilgesellschaft, während die Judenfeindschaft im wilhelminischen Deutschland in Vereinen, Verbänden, in akademischen Zirkeln sowie in der Mitte der Gesellschaft sowohl in der Breite wie in der Tiefe präsent war.

      Gleichwohl der »Weg nach Auschwitz« nicht zwangsläufig war, existierte in Deutschland eine lange, antisemitische Welle, deren Judenfeindschaft sich in ihrer eliminatorischen Radikalität wie in ihrer gesellschaftlichen Verankerung von allen anderen Ländern abhob. Ihre Schärfe setzte bereits mit Martin Luther (1483–1546) und seinem antisemitischen Maßnahmenkatalog ein, der vom Verbrennen jüdischer Synagogen, Gebetsbücher und Talmudschriften über die systematische Beraubung bis hin zum Hinausjagen aus dem Lande reichte; ein bis dato einmaliges, existenzielles Vernichtungsprogramm jüdischen Lebens, das in programmatischer Hinsicht dem Juden einzig und allein noch seine nackte Existenz zu lassen gedachte und den deutschen Protestantismus hochgradig antisemitisch formte. Die Millionen deutschen Täter und Mittäter kamen nicht aus dem Nichts, sondern standen bedingt durch das antijüdische Ressentiment, das seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer größere Teile der deutschen Bevölkerung erfasste, gewissermaßen schon Gewehr bei Fuß als der deutsche Nationalsozialismus im Januar 1933 die Macht übernahm und auch die heranwachsenden, jüngeren Generationen durch den diktatorischen Zugriff auf das staatliche Schul- und Bildungssystem judenfeindlich konditionierte. Wenn auch die Shoah keineswegs unabwendbar war, so war sie gleichwohl in der langen Welle des Antisemitismus angelegt, die in Deutschland über spezifische Charakteristika verfügte. Die eliminatorische Rigorosität sowie die Breitenverankerung des Antisemitismus in der Elite eines Landes, dessen hochimperialistischer, gewaltbereiter Staat nach einer kurzen Phase der Demokratie zur Diktatur mutierte, liefern eine Antwort auf die Frage »Warum die Deutschen?«. Die Radikalisierung des Sozialdarwinismus in Gestalt der deutschen Rassenhygiene, ihre praktische Umsetzung in Form von Patientenmord und Zwangssterilisierung seitens des Nazi-Regimes sowie die Führung des Zweiten Weltkriegs als Vernichtungskrieg trugen im weiteren historischen Verlauf maßgeblich dazu bei, die Judenfeindschaft zum eliminatorischen Antisemitismus der Tat in Gestalt eines systematischen Völkermords zu transformieren.

      Die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden sowie die Verfolgung der Opfer in über 20 Ländern sowie an zahllosen Orten des Geschehens wären indes auch mit Hilfe von Millionen deutscher Täter und Mittäter allein nicht durchzuführen gewesen. Zwar darf die Verantwortung der Deutschen für die Shoah nicht relativiert