Achim Bühl

Die Shoah


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Verantwortung oder gar eigenständig mordeten, Konzentrations- und Vernichtungslager bewachten, Deportationszüge bereitstellten, Grenzen schlossen, Flüchtlinge zurückwiesen oder aber ihre eigenen jüdischen Staatsbürger nicht vor der Deportation bewahrten. Dergestalt betrachtet war und ist die Shoah ein deutscher, ein europäischer sowie ein weltweiter Tatbestand.

      Der vorliegende Band beabsichtigt in Form von Länderdarstellungen das Zusammenwirken des deutschen Haupttäters und seiner europäischen Mittäter zu schildern, wie zu analysieren sowie einen länderbezogenen Überblick über das ganze Ausmaß und die menschliche Tragödie der Shoah zu vermitteln.

       1. DIE SHOAH IM »ALTREICH«

      Bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme im Januar 1933 ließen die Nazis keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Antisemitismus ein Kernstück ihres staatlichen Handelns bildete. In den Jahren zwischen 1933 und 1938 nahmen die soziale Ausgrenzung und die Diskriminierung der Juden in Form zahlreicher Gesetze und Verordnungen des Staates Gestalt an. Einen ersten Scheitelpunkt auf dem Weg zum Genozid stellte die Polenaktion dar, insofern die erzwungene Auswanderung durch eine Massendeportation begleitet wurde. Die Novemberpogrome des Jahres 1938 stellen bereits den Beginn der zweiten Phase des nationalsozialistischen Staatsantisemitismus dar, weil sie die Vertreibung durch Massenterror forcierten. Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf das Nachbarland Polen und damit der Beginn des Zweiten Weltkriegs war unmittelbar von antisemitischen Ausschreitungen begleitet, an denen Einsatzgruppen, deutsche Wehrmachtssoldaten, »Volksdeutsche« wie nichtjüdische Polen beteiligt waren. Die Besetzung großer Teile des polnischen Territoriums sowie die Angliederung westlicher Teile an das Deutsche Reich ermöglichten dem Nazi-Regime erstmals die Planung eines »bevölkerungspolitischen Austauschs« größten Ausmaßes. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 leitete die dritte Phase der Verfolgung ein.

      1.1 Die Ausgrenzung der Juden Deutschlands 1933–1938

      Wenige Wochen nach der Machtübernahme verdeutlichte die Gesetzgebung des Regimes, dass der Antisemitismus das Zentrum der nationalsozialistischen Ideologie darstellte und zur Tat drängte. Bereits in den ersten Tagen kam es zwar zu Gewalttätigkeiten gegen Juden, noch stand jedoch zumeist deren Mitgliedschaft in einer politischen Partei im Vordergrund der Übergriffe. Nach dem deutschlandweit durchgeführten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 wurde am 7. April 1933 das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen. Das erste rassistische Gesetz des Nazi-Regimes führte den sogenannten »Arierparagraphen« ein, der sogleich ohne Zwang von Vereinen und Verbänden sowie in der Privatwirtschaft übernommen wurde. Beamte, die »nicht arischer Abstammung sind«, so heißt es im Gesetzestext, seien in den Ruhestand zu versetzen. Da die Begrifflichkeit des Ariers ohne definitorischen Rückgriff auf den Terminus des Juden nicht zu spezifizieren war, bestimmte die Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, dass als nichtarisch zu gelten habe, wer über einen oder mehrere jüdische Großelternteile verfüge. Ebenfalls am 7. April 1933 wurde das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erlassen, das es gestattete, Rechtsanwälten mit einem oder mehreren jüdischen Großelternteilen die Zulassung zu entziehen. Am 22. April 1933 folgte die Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen, die den »nichtarischen« Ärzten die kassenärztliche Zulassung entzog. Drei Tage darauf erfolgte am 25. April 1933 das Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen, das die Definition des »Nichtariers« aus dem »Berufsbeamtengesetz« übernahm und festlegte, dass der prozentuale Anteil der »Nichtarier« im Schul-sowie im Hochschulbereich den Anteil der »Nichtarier« an der reichsdeutschen Bevölkerung nicht übersteigen dürfe.

      Eine Verschärfung der sozialen Ausgrenzung und Diskriminierung leiteten die »Nürnberger Rassengesetze« ein, darunter das am 15. September 1935 verabschiedete Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (»Blutschutzgesetz«). Das »Blutschutzgesetz« verbot die Eheschließung sowie den außerehelichen Sexualverkehr zwischen »Juden« und »Nichtjuden«. Die dadurch erfolgte Einführung des juristischen Tatbestands der »Rassenschande« führte im Zeitraum zwischen 1935 und 1943 zu über 2000 Verurteilungen. Das ebenfalls auf dem »Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP« verabschiedete »Reichsbürgergesetz« machte die Juden zu Bürgern zweiter Klasse indem es zwischen Reichsbürgern (»Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes«) und Reichsangehörigen (»Angehörige rassefremden Volkstums«) mit geringeren Rechten unterschied. Da zu diesem Zeitpunkt keine juristische Definition vorlag, wer als Jude gelten sollte, und auch das Reichsbürgergesetz dies noch offen ließ, erfolgte am 14. November 1935 eine Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Als Jude galt im Deutschen Reich künftig, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen abstammte (sogenannter »Volljude«). Als Jude zählte ebenso, wer von zwei jüdischen Großeltern abstammte und der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte oder mit einem jüdischen Ehepartner verheiratet war (sogenannter »Geltungsjude«). Als »jüdischer Mischling« galt fortan eine Person, die von zwei (»jüdischer Mischling ersten Grades«) oder von einem Großelternteil (»jüdischer Mischling zweiten Grades«) abstammte und über keinerlei Bindungen zum Judentum verfügte. Die Einstufungen entschieden im weiteren Verlauf über Leben und Tod und wurden in Deutschland, in den besetzten Gebieten sowie von den verbündeten Ländern in definitorischer wie in praktischer Hinsicht höchst unterschiedlich gehandhabt.

      Das Bestreben des Nazi-Regimes, die Juden zu erfassen verdeutlichte mehrere Monate nach der Machtübernahme die Volkszählung vom 16. Juni 1933, die noch nicht die spätere »Juden-Definition« des deutschen Nationalsozialismus zugrunde legte, d. h. im Sprachgebrauch der Statistik »Glaubensjuden« auswies. Bei einer Anzahl von 499 682 Personen betrug der Anteil der »Glaubensjuden« an der Gesamtbevölkerung knapp 0,8 %, wobei sich die jüdische Bevölkerung vor allem in den Großstädten konzentrierte. Noch vor Berlin mit einem jüdischen Anteil von 3,8 % lag an erster Stelle Frankfurt mit 4,7 %. Aus der Sicht des deutschen Nationalsozialismus waren die Ergebnisse der Volkszählung höchst unbefriedigend, da die Nazis Entrechtung und Verfolgung der Juden nicht auf das Merkmal der »Andersgläubigkeit« bezogen, sondern auf das Konstrukt der »Andersrassigkeit«, welche biologische Minderwertigkeit postulierte. Das Ideologem vom Juden als »Gegenrasse« suggerierte eine »volkskörperzersetzende Gefahr«, behauptete den drohenden Untergang der »arischen Rasse« und beschwor einen endzeitlichen Kampf zwischen dem rassisch wertvollen »Arier« und dem »vorderasiatischen Rassengemisch« des Israeliten hinauf.

      Im Unterschied zur Volkszählung vom Juni 1933, die konzeptionell noch von der Weimarer Republik geplant wurde, verfolgte Reinhard Heydrich (1904–1942) als Chef des Geheimen Staatspolizeiamtes (»Gestapo«) das Ziel einer »restlosen Erfassung« der Juden auf Basis der nationalsozialistischen »Rassentheorie«. Bereits vor den »Nürnberger Gesetzen« wies Heydrich die örtlichen Stellen der Gestapo an, »Judenkarteien« anzulegen, welche die Mitgliederlisten jüdischer Gemeinden, Vereine und Verbände nutzen sollten. Die für 1938 geplante Volkszählung, die wegen des »Anschlusses Österreichs« auf den 17. Mai 1939 verschoben wurde, legte im Unterschied zur Erhebung von 1933 erstmals die »Nürnberger Gesetze« zugrunde. Die Volkszählung von 1939 fragte folglich: »War oder ist einer der vier Großelternteile der Rasse nach Volljude? (Ja oder nein)« und erfasste die Angaben in einer »Ergänzungskartei« für Großvater und Großmutter väterlicher- wie mütterlicherseits. Bei einer Gesamtbevölkerung von 69 316 846 Personen im sogenannten »Altreich« wurden 233 846 Personen als »Volljuden« eingestuft, 213 930 als »Glaubensjuden«, 8500 als »Geltungsjuden«, 52 005 als »Mischlinge 1. Grades« sowie 32 669 als »Mischlinge 2. Grades«. Der Anteil der auf Grundlage der Nürnberger Gesetze als Juden geltenden Personen betrug 0,35 %. Die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17.8.1938, die am 1. Januar 1939 in Kraft trat, stellte einen ersten Versuch dar, Juden öffentlich zu markieren. Juden wurden zur zusätzlichen Annahme des Vornamens »Israel« gezwungen, Jüdinnen