Marina Scheske

Odersumpf


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hungerten.«

      Er hält einen Moment inne, eine steile Falte steht zwischen seinen Brauen. Vorsichtig schlägt er den Stammbaum zusammen und legt ihn zurück in die Bibel.

      »Das ist nicht die ganze Wahrheit, Konrad. Man muss sich der Wahrheit stellen. Sie haben den schönen Besitz kaputt gemacht. Die Erben stritten sich und teilten das Gut in vier Hälften. Das war ein großer Fehler. Drei Hälften davon wurden verjuxt und verschwendet! Auch das waren Wielands, auch unser Baum trug faule Früchte. Merk dir, Konrad, nur wenn man an einem Strang zieht, kann man etwas erreichen. Einigkeit macht stark!«

      Er bekräftigt seine Worte, indem er mit der Faust auf den Tisch schlägt.

      »Den Rest habe ich von meinem Onkel übernommen. 1920, in der schlimmsten Zeit, da war ich dreißig. Die Leute in der Stadt fraßen ihren Dreck, da lernt man zu schätzen, was die eigene Scholle wert ist. Es war nicht leicht. Früher war man mit dreißig Jahren ein Mann, der das Leben schon geschmeckt hatte. Ich hatte einen Beruf, war verheiratet und wir erwarteten unser zweites Kind. Und ich war im Felde gewesen.«

      Urvater spricht nie über den Krieg, nicht über den ersten, nicht über den zweiten. »Im Felde gewesen«, das ist alles, was zum Thema Krieg über seine Lippen kommt.

      »Es waren schwierige Zeiten. Erst die Weltwirtschaftskrise, dann die Nazis. Kapitalismus, Sozialismus, Nationalsozialismus, Kommunismus! Merk es dir gut, Konrad, alles, was mit ›mus‹ endet, ist schlecht! Diese ganzen Ideologien, sie säen nichts weiter als Neid, Hass und Zwietracht. Ich gebe dir einen Rat, Junge, halt dich da raus. Gehst du in eine Partei, hast du deine Seele verkauft. Du bist kein freier Mann mehr, du musst machen, was die Funktionäre der Partei wollen. Das war früher so und ist heute nicht anders. Schau sie dir an, diese Funktionäre, wer sind sie denn? Schwätzer und Fantasten. Leute, die nichts weiter können als Sprüche klopfen. Wer nichts gebacken bekommt im Leben, der geht in die Politik. So war es und so bleibt es. Bevor der Hitler an die Macht kam, da haben sie sich geprügelt, hier in Friedrichsfeld, die Roten und die Braunen, das ganze Lumpenproletariat. Das konnten sie gut, das war alles, was sie konnten. Parolen schreien, die Wände beschmieren und sich prügeln. Wenn du groß bist, Junge, dann such dir einen Beruf, in dem du ungestört arbeiten kannst. Eine Arbeit, in die dir kein Funktionär reinreden kann. Lerne ein Handwerk oder was Technisches wie dein Vater. Da haben die keine Ahnung von, da kannst du schalten und walten, wie es dir beliebt, und bist ein freier Mann.«

      Konrads Vater war Ingenieur im hiesigen Wasserwerk gewesen und Konrad hatte später den Beruf eines Elektrikers erlernt. Keiner aus der Familie war in die SED eingetreten. Hatte Urvaters Einfluss die Familie so nachhaltig geprägt?

      Alles, was mit »mus« endet, ist schlecht.

      Konrad war fast acht Jahre alt und hatte gerade das erste Schuljahr beendet, als er diesen Satz aus dem Munde des Urvaters hörte. Natürlich wusste er noch nicht, was sich hinter dem Begriff »Ideologie« verbarg. Aber was Urvater sagte, musste wahr und recht sein, weil er der Urvater war. Er sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen, war sein Gesprächspartner an langen Winterabenden, wenn die Großmutter in der Küche mit dem Geschirr rumorte oder mit ihrem Strickzeug schweigend auf der Ofenbank saß. Seine Worte fielen auf den fruchtbaren Boden eines Kindergemüts, das ganz unbewusst nach einer absoluten Wahrheit suchte. Lag es daran, dass er in einer Welt der Doppelzüngigkeit aufwuchs? Schon als Fünfjähriger wusste er, dass er im Kindergarten nicht alles erzählen durfte, was zu Hause gemacht und besprochen wurde, und das ging in der Schule so weiter.

      Nun verstand er. Wenn die Lehrerin vorn an der Tafel vom ruhmreichen Kommunismus sprach, lehnte er sich zurück und ein kleines überlegenes Lächeln umspielte seine Lippen. Er wusste, dass sie log. Kommunismus ist ein »mus-Wort«, also kann er nur schlecht sein. Er bringt den Menschen Not, Krieg und Hass. Konrad darf das nicht in der Schule sagen, denn sie haben den längeren Arm und können ihm die Zukunft versauen. Auch das hatte der Urvater gesagt. Aber die Gedanken sind frei und deshalb hatten die Kommunisten das Lied von den freien Gedanken verboten.

      Hielten sich nicht auch die Kinder der völkischen Siedler für etwas Besseres? Hatten sie ihnen nicht das Leitbild einer elitären Gemeinschaft eingepflanzt, die allen anderen Menschen überlegen war? Nicht umsonst bezeichneten sie ihre Kinder als ihren größten Reichtum. Bei dieser Aussage ging es nicht nur um das Band der Liebe, das in jeder Familie Eltern und Kinder vereint. Es ging vor allem um die Zukunft ihrer Ideologie. Die Kinder waren der fruchtbare Boden, den sie bestellten, um zu Ende führen zu können, wozu sie sich berufen fühlten. Entsprach nicht genau dies Urvaters Motivation, dem achtjährigen Jungen sein eigenes Weltbild zu vermitteln?

      Der Urvater hatte Konrads geistiges Potenzial und seine schon früh ausgeprägte Suche nach dem Sinn des Lebens als Einziger in der Familie erkannt. War Konrad die Hoffnung seines Alters, wie kein anderer seiner Nachkommen es je gewesen war? Zu Hause bei seinen Eltern, auch bei allen anderen Verwandten, galt er als ein eher langweiliges Kind ohne große Interessen, ein Kind, das keine Fragen stellte. Zwar erhielt er gute Noten in der Schule, war aber schweigsam und schien ohne jegliche Originalität, ohne besondere Fähigkeiten und Neigungen zu sein. Sein inneres Erleben sahen sie nicht, das sah und begleitete einzig der Urvater, und er wurde nicht müde, es zu nähren. Kurz vor seinem Tod setzte er ein Testament auf und trug Konrad als seinen Universalerben ein.

      Die innere Freiheit und das Wissen, selbstständig denken, entscheiden und handeln zu können, auch wenn der Handlungsspielraum in einem Land wie der DDR begrenzt blieb, das war das wichtigste immaterielle Erbe des Urvaters und es lebte still in Konrad weiter.

      Er konnte als Heranwachsender nicht durchschauen, dass dies die Saat des Urvaters war, so wie auch die Kinder der völkischen Siedler nicht durchschauten, dass sie nie die Fußstapfen ihrer Väter verlassen würden, es sei denn, etwas Besonderes geschähe. Diese Weitergabe von Generation zu Generation wurde seit Menschengedenken nur durch Katastrophen unterbrochen, die sich entweder extern vollzogen, durch Kriege oder Naturereignisse, oder intern durch persönliche, psychische Krisen ausgelöst wurden.

      Der Tatsache, dass der Urvater nicht über seine Kriegserlebnisse sprechen will, haftet etwas Mystisches an. Dadurch wird der Krieg für den Jungen in das Land der Märchen und Sagen verbannt. Konrad weiß nur, dass er im ersten Krieg an der Westfront gewesen ist, ein abstrakter Begriff für einen Jungen seines Alters. Und er weiß, dass sein Cousin, der Hans, in diesem Krieg gefallen ist.

      »Hans war nicht nur mein Cousin, er war mein bester Freund«, sagt der Urvater, kneift die Lippen zusammen und schweigt. Damit ist das Thema eigentlich beendet.

      Doch Konrad gibt keine Ruhe, er fragt ihn, weshalb er nicht im zweiten Krieg gekämpft habe.

      »Gott sei Dank war ich dafür schon zu alt«, antwortet er, »und außerdem war ich kriegswichtig. Räder sollen rollen für den Sieg, so hieß das damals.«

      Es folgt eine stolze Erläuterung, die darin gipfelt, dass alles, aber auch alles, ob im Krieg oder Frieden, mit der Eisenbahn steht oder fällt. Diese Lobpreisung des Eisenbahnwesens kennt Konrad auswendig, er hört nicht mehr richtig zu, bis der Urvater sagt: »Aber dann, im Herbst 44, da wollte mich die Saubande doch noch an die Front schicken.«

      Konrad holt tief Luft und schaut den Urvater gespannt an, darüber hat er noch nie gesprochen.

      »Was meinst du wohl, Konrad? Ob sie das geschafft haben?«

      »Nee!«, antwortet er schnell. Unruhig rutscht er auf seinem Stuhl hin und her, in Erwartung einer spannenden Geschichte.

      »So war es, mein Junge!« Der Urvater zaust ihm das Haar. »Sie haben es nicht geschafft. Weil ich nämlich krank wurde, ganz schwer krank! Todkrank sozusagen.«

      Urvater schaut ihn eindringlich an, dabei zwinkert er listig. »So krank wie du, wenn du keine Lust hast, zur Schule zu gehen.«

      »Du hast den Krieg geschwänzt, Urvater!«

      Der Urvater hebt theatralisch beide Hände und schaut himmelwärts, als wollte er dort oben einen Zeugen anrufen. »Aber nein, Konrad, was denkst du denn von mir! Ich erhielt ein ärztliches Attest. Ich habe es aufbewahrt, man weiß ja nie. Natürlich war ich krank, sterbenskrank! Ja, so kann man es sagen, ich war dem Tode sehr nah, denn