Marina Scheske

Odersumpf


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geflohen vor Graf. Klar, er ist vielleicht ein Psychopath, aber ein Mörder? Nee, da steht für ihn zu viel auf dem Spiel. Er hat doch einen Ruf zu verlieren. Es geht um ihre Sache, Laura, und diese Sache ist ihnen heilig.«

      »Aber wenn sie wirklich untergetaucht ist, warum hat sie ihrem Vater nichts gesagt? Ich meine, sie hätte ihm ja nicht sagen müssen, wohin, aber wenigstens, dass sie weggeht, damit er sich keine Sorgen macht. Stell dir vor, deine Tochter würde einfach so verschwinden!«

      »Sie hatten kaum noch Kontakt.«

      »Vielleicht ist sie ja wirklich regelrecht geflohen und wollte sich später bei ihm melden. Aber später war zu spät. Ach, Scheiße! Jetzt sitzt sie irgendwo und weiß nicht, dass ihr Vater tot ist!«

      Laura schluchzte laut auf. »Ich kann nicht mehr, Konrad. Warum ist er ausgerechnet hierhergezogen? Wusste er, dass wir auch hierherziehen wollen?«

      »Ich glaube nicht. Ich hatte ihn ja lange nicht gesehen.«

      »Gestritten habt ihr euch! Und dann warst du ewig nachtragend. Ich mache mir große Vorwürfe, wir hätten uns mehr um ihn kümmern müssen.«

      »Laura, beruhige dich doch. Wir hatten genug mit uns selbst zu tun. Was immer geschehen ist, uns trifft keine Schuld. Es tut mir leid, dass Holger tot ist. Es tut mir sehr leid! All das tut mir sehr leid, aber ich kann nichts dafür und ich kann es nicht ändern. Wir gehen natürlich zu seiner Beerdigung. Aber wir wollen hier neu anfangen! Jetzt muss ich die Betten der Kinder aufbauen.«

      Laura stand am Waschbecken und ließ das kalte Wasser über ihre Handgelenke laufen.

      Ihre Gedanken weilten in der Vergangenheit. Sie sah, wie sie aus dem Haus rannte und vergeblich nach Max Ausschau hielt. Plötzlich stand er vor ihr.

      »Feuerwehr! Mama, die Feuerwehr ist da. Holger, ganz viel Blut. Der große Hund! Holger kommt ins Krankenhaus!« – »Max! Ich habe mir solche Sorgen gemacht, du warst einfach weg!« – »Mach dir keine Sorgen, Mama, die Feuerwehr ist da.« – »Oh Gott, was ist passiert?«

      Max war der einzige Zeuge gewesen. Was hatte er gesehen und wie tief waren die Spuren, die dieses grausame Geschehen in seiner Seele hinterlassen hatte? Später erfuhren sie, dass ein zufällig vorbeikommender Mann, der am See angeln wollte, den schwer verletzten Holger kurz vor dem Vorwerk gefunden hatte.

      Laura ließ keine beschwichtigenden Rechtfertigungen gelten. Wenn etwas schiefgelaufen war, dann haderte sie vor allem mit sich selbst. Sie warf sich vor, sich nicht genug um Holger gekümmert zu haben. Während Konrad nebenan seelenruhig die Betten der Kinder aufbaute und dabei leise eine Melodie pfiff, stand sie in der Küche vor den Umzugskartons und fühlte sich außerstande, etwas zu tun. Endlich nahm sie das Messer und schnitt wütend den ersten Karton auf, ihre verletzte Hand schmerzte.

      Was wollen wir überhaupt hier, dachte sie. Am Rand von Friedrichsfeld, in dieser gottverlassenen Gegend, die als sozialer Brennpunkt bekannt ist.

      Die Mieten waren günstig. Hier wohnten alte Leute mit kleinen Renten und junge Familien, die sich nichts anderes leisten konnten. Es gab eine Kaufhalle, eine Grundschule, eine Kita, eine Arztpraxis und einen Kinderspielplatz, das war alles. Wer mehr wollte, musste weit laufen oder fahren, um in den Ortskern der Kleinstadt zu kommen. Sicher hätten sie auch woanders etwas gefunden, aber es sollte schnell gehen. Das war kein normaler Umzug gewesen, sondern eine Flucht.

      Warum haben wir uns vertreiben lassen? Weil wir keine Nerven mehr hatten für ihre Spielchen. Und nach dem Interview, da waren wir die Nestbeschmutzer. Gebracht hat dieses blöde Interview nichts. Es erschien in einer Zeitung, die hier im tiefsten Osten ganz sicher nur einen sehr kleinen Leserkreis hat. Leser, die in einer Blase leben.

      Und dann der Artikel im Schaukasten des Bürgermeisteramts, wie sie davorstanden und aufgebracht diskutierten. Wir haben versagt. Da gibt es nichts, was man schönreden kann, der Traum vom Haus auf dem Land ist ausgeträumt.

      Wann war das eigentlich losgegangen, dass sie alle aufs Land wollten, die Freunde in Berlin-Mitte? Als sie Kinder bekamen und ihnen plötzlich auffiel, wie laut und dreckig diese Stadt ist, von anderen Gefahren ganz abgesehen. Als sie Familien gründeten und sich ihr Leben völlig änderte.

      Nun wollten sie plötzlich raus aus dieser Welt der grenzenlosen Freizügigkeit, der unendlichen kulturellen Möglichkeiten, weg vom Partyleben. Sie suchten auf einmal ihr inneres Kind und sehnten sich nach einer Zeit, in der die Uhren noch tickten, das Telefon eine Wählscheibe hatte und Oma für die Enkel Kirschsuppe mit Klieben kochte. Landlust, so hieß das neue Zauberwort.

      Als die erste Familie es geschafft hatte, feierten sie Einweihung.

      Laura erinnerte sich an die Gespräche der Frauen am Küchentisch. Plötzlich redeten alle von selbst gekochter Marmelade. Es schien, als würden alle Ängste, alle Sorgen, alle Reibereien unter ihnen, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten, von einem endlosen Strom süßer, fruchtiger, klebriger Marmelade überdeckt werden. Von der fortschreitenden Gentrifizierung der Großstadtquartiere war an diesem Tisch keine Rede mehr und das Scheitern der Mietpreisbremse mutierte zur bedeutungslosen Randnotiz. Noch nicht einmal über Flüchtlingsströme diskutierten sie mehr. Die Männer taten es den Frauen gleich. Sie redeten über einen fachgerechten Baumschnitt und darüber, wo es eine ordentliche Heckenschere zu kaufen gab. Und dann begutachteten sie den alten Schuppen im Garten unter dem Aspekt einer nützlichen Verwendung. Met sollte hier gebraut werden, eventuell, das wäre doch was! Oder lieber Obstwein ansetzen?

      Konrad jedenfalls war Feuer und Flamme, halbe Nächte verbrachte er am Laptop, um nach Immobilien zu suchen. Laura zögerte noch, ihr Leben verlief eigentlich in gut eingespielten Bahnen, vor allem wollte sie ihren Arbeitsplatz nicht aufgeben. Bis jener Sommerabend kam.

      Eine weitere Familie aus ihrem Bekanntenkreis entschied sich für ein Leben auf dem Land.

      In einem kleinen Dorf in der Uckermark hatten sie sich einen Resthof gekauft. Für Handwerker, so hieß es ironischerweise in der Anzeige. Die Familie hatte sich vorerst in der Ruine, wie sie das Haus mit seinen zahlreichen Nebengebäuden nannten, provisorisch eingerichtet. Sie luden die Freunde zu einem Grillfest ein.

      »Das Dach ist jedenfalls dicht«, meinte der Hausherr, während er die Besucher über den Hof führte.

      »Alles andere kommt so nach und nach. Wir haben Zeit!« Es hörte sich an, als würde er sagen: Jetzt sitzen wir hier, und wo wir sitzen, da bleiben wir.

      Konrad nahm es neidvoll zur Kenntnis, obwohl er diesen Hof wirklich nicht haben wollte. Er trottete hinter den anderen her. Nun sollte es einen Schnaps geben, und zwar in der Scheune, »aus der man was machen könnte, mal sehen«.

      Er horchte auf, als der Begriff »eigene Scholle« fiel, den kannte er vom Urvater. Auf die eigene Scholle tranken sie einen klaren Schnaps und noch einen und noch einen.

      Als Laura in die Scheune kam, konnte Konrad nicht mehr gerade stehen, er saß im Heu. Laura war sauer, so kannte sie ihn nicht, er betrank sich nie. Sie hatten abgemacht, dass sie fahren sollte, sie hatte natürlich nichts getrunken, dennoch war sie wütend, als sie ihn so sah.

      Gestützt von seinen Freunden stand er schwankend auf und torkelte, das Glas in der Hand, auf sie zu. »Prost, Schnecke, auf die eigene Scholle!«

      »Wir fahren jetzt, Konrad! Halte deinen Kopf unter die Pumpe, damit du wieder nüchtern wirst, ich hole die Kinder!«

      Die Männer johlten hinter ihr her. Alle waren sie betrunken und sie konnte sich nicht erinnern, auch nur einen von ihnen jemals in so einem Zustand erlebt zu haben.

      Die Frauen saßen auf der Veranda und redeten über Hühnerhaltung. Laura informierte sie über das Gelage in der Scheune, sie nahmen es mit ihrer neuen ländlichen Gelassenheit auf. Die Frau des Hauses bot ihr an, doch einfach bei ihnen zu übernachten, Decken, Zahnbürsten und Handtücher hätten sie genug. Laura lehnte dankend ab, ihre Wut war noch nicht verraucht. Und wo waren eigentlich die Kinder?

      Die Frauen schwärmten aus, fanden aber nur die Kinder der anderen Familien, die es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten und Gummibärchen aßen. Ihren Bedarf an frischer Landluft hatten