Marina Scheske

Odersumpf


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hält inne, holt tief Luft und fügt dann mit entrüsteter Stimme hinzu: »Ja glaubst du denn, ich wäre für diesen Drecksack aus Braunau noch kurz vor dem Zusammenbruch ins Feld gezogen?«

      Darauf schweigen sie, der Urvater weilt sinnend in der Vergangenheit und der Junge sortiert die Informationen.

      Klar, die Front ist der Krieg, da standen sich die Soldaten gegenüber und kämpften. Und das Feld ist kein Kartoffelfeld, es heißt Schlachtfeld, weil dort die Schlacht stattfand. Das hat etwas mit dem Schlachten zu tun, weil da auch viel Blut geflossen ist und getötet wurde. Vom Schlachten hält der Urvater ebenfalls nichts. Die Hühner überlässt er der Großmutter. Das geht flink bei ihr, schnell das Huhn gepackt, rauf auf den Holzklotz und dann schwingt sie die Axt. Sollen andere Tiere geschlachtet werden, Kaninchen oder mal eine Ziege, kommt ein richtiger Schlachter und der Urvater verzieht sich. Er taucht erst wieder auf, wenn alles vorbei ist, um den Schlachter zu bezahlen und einen Schnaps mit ihm zu trinken.

      Hans, der Cousin, der ist nicht nur hingefallen, einfach so, sondern der ist gestorben. Erschossen oder so. Und der Drecksack aus Braunau, das ist natürlich dieser Hitler. Der ist an allem schuld. Millionen Menschen hat der in den Tod getrieben. Das muss man sich mal vorstellen, ein einziger Mann! Das war so ungeheuerlich, das gibt es in keinem Märchenbuch! Immer haben die Guten gesiegt, Gretel befreite ihren Bruder Hänsel und verbrannte die Hexe, der Wolf stürzte in den Brunnen, weil er den Bauch voller Steine hatte, und die Bremer Stadtmusikanten verjagten die Räuber. Nur gegen Hitler, den Mann aus diesem Braunau, das sicher ein ganz schlimmer, finsterer und schmutziger Ort ist, gegen den kam keiner an. Noch nicht mal der Urvater.

      Sein großes Vorbild als Verlierer, welch ein ungeheuerlicher Gedanke. Konrad findet sich schließlich damit ab, denn Hitler ist allmächtig gewesen, so scheint es ihm, ein böser Zauberer, ganz wie der Zauberer im Märchen vom gestiefelten Kater. Der Kater hat ihn dann doch noch besiegt, weil er sehr schlau war, und auch den Hitler haben sie besiegt. Aber da sei es leider schon zu spät gewesen, meint der Urvater. Da sei nichts mehr zu retten gewesen, das hätte ein Jahr vorher passieren müssen, in der Wolfsschanze. Dann murmelt er etwas von einem Stauffenberg. Doch Konrad hört nicht mehr hin, das Wort »Wolfsschanze« beflügelt zu sehr seine Fantasie.

      Trotz der Sache mit Hitler blieb der Urvater die höchste Instanz im Kinderleben Konrads. Einen lieben Gott, an den man zu glauben hatte, gab es für ihn nur der Form halber. Seine Eltern waren eigentlich Atheisten, nur dem Urvater zuliebe hielten sie an der Kirche fest.

      Die Bibel im Haus des Urvaters war für ihn ein Buch der Märchen und Sagen mit vielen schönen bunten Bildern. Manchmal las er ihm aus diesem dicken alten Buch vor, stets aus dem Alten Testament, das Neue interessierte ihn nicht. Immer ging es um Gottes Volk, das Volk Israel, welches die seltsamsten Abenteuer bestand auf der Suche nach Land, das ihnen Schutz und Nahrung bot. Konrad verstand, vor vielen Tausend Jahren waren schon Menschen durch die Welt gezogen, um Land in Besitz zu nehmen. Ohne Land ging nichts. Sogar seine Eltern, die im Plattenbau wohnten, hatten einen Kleingarten. »Eigene Ernte«, das war ein stolzer Begriff, es klang aus dem Munde seines Vaters wie »der Sieg ist unser«.

      Und dann war da noch Gott, der stets den Zug der Israeliten begleitete, aus den Wolken auf sie herabschaute und es Nahrung regnen ließ, wenn sie Not litten. Sogar das Meer teilte er vor ihnen, damit sie trockenen Fußes weiterkamen auf der Suche nach ihrem Land.

      In Konrad stieg die Ahnung auf, dass dieser Gott für den Urvater eine Macht darstellte, die einzige, absolute Macht, vor der er sich beugen musste. Oft sagte er: »Der Mensch denkt und Gott lenkt.«

      Gott hielt also die Zügel in den Händen, er bestimmte, wohin die Reise ging. So verstand er es, doch es blieb für ihn abstrakt, es war nicht greifbar wie die Sache mit dem Land. Viele Jahre später begriff er, dass beides für den Urvater zusammengehörte. Das Land kam von Gott, dem Weltenlenker, er gab es denen, die es sich redlich verdient hatten. Die Guten hatten es sich verdient, die Gerechten, die Fleißigen, die Bescheidenen und nicht die Lügner, Prasser und Hohlschwätzer. Die faulen Äpfel am Stammbaum, sie hatten es verwirkt. Schwarz und weiß, gut und böse, fleißig und faul, so einfach war Urvaters Weltbild gewesen.

      War nicht auch das Weltbild der völkischen Siedler von der gleichen naiven Schlichtheit? Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

      In einer Zeit, in der das Alte zerfiel und das Neue noch nicht ausgereift war, in dieser Zeit der Orientierungslosigkeit und Sehnsucht nach einem neuen Aufbruch versuchten sie, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sie gebärdeten sich, als hätte es alle politischen Umbrüche, Kulturkämpfe und Reformen der vergangenen Jahrhunderte nie gegeben.

      Wie oft hatte er anfänglich in jenen Creywitzer Tagen gedacht, sollen sie doch machen, was sie wollen, solange sie uns in Ruhe lassen. Leben und leben lassen, das hatte er von seinem Vater und auch das hatte er verinnerlicht. Es dauerte lange, bis er begriff, dass er auf dieser Basis nicht mit ihnen zusammenleben konnte. Ihre Ideologie basierte auf Abgrenzung und daraus entstand Ausgrenzung. Es ging ihnen nicht nur um Land und Nahrung, um die Familien und ihren blühenden Fortbestand, es ging vor allem um Macht und Herrschaft, um eine Wiederherstellung der Verhältnisse, die laut Urvater dieses Land ins Verderben gestürzt hatten.

      Ihre ganze folkloristische und ökologische Umtriebigkeit war ein Etikettenschwindel, eine grüne Tarnung, so gut, dass selbst der Urvater auf sie hereingefallen wäre, davon war Konrad überzeugt. Weil er gutgläubig gewesen war, ehrlich und davon ausging, die anderen wären es auch.

      Umso härter traf es ihn, als er enteignet wurde. Einfach so, fast konnte man sagen, über Nacht. Man hatte Großes vor mit der kleinen Stadt in der Uckermark. Industrie siedelte sich an, Wohnblocks wurden gebaut für die arbeitenden Werktätigen. Junge Familien kamen und mit ihnen die Kinder. Die wenigen Schulen der Stadt platzten bald aus allen Nähten. Und so beschlossen die Funktionäre, neue Schulen und Kindergärten zu bauen. Ein Schwimmbad musste her, ein Kulturzentrum und eine Bücherei. Dazu noch eine Umgehungsstraße, die sich mitten durch die Gärten und Bauerngehöfte am Stadtrand ihren Weg bahnen sollte. Die Stadt fraß sich in das Land und fraß Urvaters Grund und Boden. Sie war jetzt eine sozialistische, dagegen kam auch der Urvater nicht an.

      Das erklärte ihm der Vater, als er Urvater aus dem Krankenhaus abholte. Nein, er habe keinen Herzinfarkt bekommen, als ihm per Brief mitgeteilt wurde, was geschehen würde. Er sei nur vom Heuboden gefallen an jenem Tag und habe sich die Schulter ausgekugelt, die ihm flugs wieder gerichtet worden war.

      Eine angemessene Entschädigung sollte für Land und Haus gezahlt werden. »Da scheiß ich drauf«, schimpfte der Urvater und sagte weiter nichts über die Angelegenheit.

      Konrad weilte währenddessen im Ferienlager. Als er zurückkam, war der Urvater tot. Er konnte nicht recht glauben, dass er wirklich und wahrhaftig in dieser Holzkiste lag, die man einfach so in die Erde senkte. Sicher ist er da gar nicht drin, dachte er, als sie am Grab standen. Er verarscht sie, er ist schlau. Er hat einen Plan, er will sie alle überlisten, um sein Land behalten zu können.

      Die Kapelle der Eisenbahner spielte »Ich hatte einen Kameraden«. Vater zischte der Mutter zu: »Ist das nicht verboten?«

      »Wie er das wohl gemacht hat«, sagte sein Vater zur Mutter, als sie den Friedhof verließen.

      »Er war fast einundneunzig. Das hat ihm den Rest gegeben.«

      Worauf der Vater meinte: »Eigentlich ist das ja ein schöner Tod. Einfach abends einschlafen und nicht mehr aufwachen.«

      So hatte es sich zugetragen. Als die Großmutter ihn zum Frühstück wecken wollte, lag er da und war einfach tot. »Der Herr war ihm gnädig«, sagte sie beim Leichenschmaus und dem war nichts mehr hinzuzufügen.

      Alle waren sie gekommen, die ganze buckelige Verwandtschaft, wie sein Vater es ironisch kommentierte. Ein letztes Mal saßen sie in seiner Wohnstube, danach verstreuten sie sich in alle Himmelsrichtungen und kamen nie wieder so zahlreich zusammen. Eigentlich kamen sie überhaupt nicht mehr zusammen. Die Großmutter zog in die Platte, später in ein Altersheim. Damals hieß es noch »Feierabendheim« und war gar nicht so übel.

      Nach Urvaters Tod fiel die Familie auseinander. Die Auflösung vollzog sich schleichend. Nicht