Willy Obrist

Klassenführung


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viel über die Lernenden, wenn wir am Ende der Stunde beobachten, wer es eilig hat, wegzukommen, wer noch Fragen hat, die er nicht vor der ganzen Klasse stellen möchte, wer noch einen kleineren oder größeren Kummer hat, den er einer aufmerksamen Zuhörerin oder einem aufmerksamen Zuhörer anvertrauen möchte.

      Lernende und Lehrpersonen wollen als Menschen wahrgenommen werden. Beide Seiten sollen auch in der Schule Gelegenheit erhalten, am Leben der anderen Anteil zu nehmen und Facetten von sich zu zeigen, die im Unterricht aber zu kurz kommen. Dieses Sich-einander-Öffnen kann ein Klima des gegenseitigen Respekts nur fördern.

      Transparenz – ein wichtiger Faktor des Unterrichtsklimas

       »Wer nicht sagt, was er will, bekommt, was er befürchtet.«

      Lehrpersonen sind dafür verantwortlich, dass im Klassenzimmer ein erfreuliches und förderliches Unterrichtsklima herrscht – diese Aufgabe kann und wird uns niemand abnehmen. Es ist wichtig, dass wir als Lehrpersonen der Klasse verständlich machen können, wie wir uns den Unterricht und die Unterrichtsergebnisse vorstellen – wir sind es, die Standards setzen, nicht im Sinne eines schriftlich abgefassten Tugendkatalogs, sondern als gelebte Praxis der Zusammenarbeit. Gut gelungene Arbeiten persönlich mit den Lernenden zu besprechen, trägt zur Klärung der Qualitätsnormen bei. Ebenso wichtig ist es, dem nachlässig und flüchtig Hingeworfenen entgegenzutreten und den Lernenden darzulegen, weshalb man nicht bereit ist, sich mit Halbheiten zufriedenzugeben.

      Anforderungen sind sachlich zu begründen; je transparenter und offener wir das tun, desto verständlicher wird es für die Lernenden und desto eher werden sie bereit sein, diese Normen anzunehmen.

      Qualitätsdiskussionen sind für Lehrende und Lernende Prüfstein ihrer Sozialkompetenz. Kann die Lehrperson ihre Anforderungen sachlich und fundiert begründen? Ist sie bereit, die Argumente der Jugendlichen ruhig und geduldig anzuhören, um sie dann zu würdigen oder allenfalls mit anderen Argumenten zu entkräften?

      Aus entwicklungspsychologischer Sicht lässt sich gut nachvollziehen, warum Jugendliche herausfinden wollen, ob über gestellte Anforderungen verhandelt werden kann und ob sie sich im Laufe der Diskussion allenfalls korrigieren lassen. Vor allem aber haben Jugendliche das Recht zu testen, ob Erwachsene es mit ihren Qualitätsvorstellungen und Haltungen ernst meinen. Lernende brauchen diese Auseinandersetzung um Werte und Haltungen zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit.

      Gutes Unterrichtsklima – geregelte Verhältnisse

      Aus Wertediskussionen lassen sich ein paar Regeln ableiten, die als gemeinsame Arbeitsbasis dienen können. Es trägt zur Transparenz bei, wenn die ausgehandelten Regeln schriftlich gefasst und die Konsequenzen von Regelverstößen geklärt werden.

      Klassen brauchen unterschiedliche Regeln. Ihre Anzahl und die Inhalte richten sich nach dem Entwicklungsstand der Sozialkompetenz. Problemloses Verhalten macht keine besonderen Regeln erforderlich. Wenn aber Konflikte auftreten, ist zu prüfen, ob gleichartige Konflikte künftig durch das Aufstellen einer Regel vermieden werden können.

      Als Leitidee mag gelten: So wenig Regeln wie möglich, so viele Regeln, wie für ein konstruktives Arbeitsklima nötig sind.

      Das Formulieren von Regeln der Zusammenarbeit ist nur der erste Schritt; ebenso wichtig ist es, dafür zu sorgen, dass die ausgehandelten Regeln eingehalten werden. Auch wenn im Sinne der Mitverantwortung die Lernenden über die Einhaltung der Regeln wachen, bleibt es letztlich Aufgabe der Lehrperson, für ein förderliches Lernklima zu sorgen.

      Dabei ist es wichtig, Grenzüberschreitungen umgehend festzustellen und zu signalisieren, dass sie wahrgenommen wurden. Wann und wie Regelverstöße geahndet werden, muss je nach Situation entschieden werden. Es gilt dabei, nicht aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, andererseits wird das Ignorieren von Übertretungen oft als Aufforderung zu weiteren Grenzüberschreitungen verstanden. Der Glaube, wenn man nicht reagiere, erledige sich eine Sache von selbst, erweist sich sehr oft als trügerisch; andererseits führt eine Nulltoleranz-Haltung zu dauernder Anspannung, was sich negativ auf das Lernklima auswirkt (mehr zum Thema »Regeln« Kommunikation).

      Diskussionskultur – Streitkultur – Konfliktfähigkeit üben

      Wer Jugendliche in der Adoleszenz unterrichtet, darf nicht konfliktscheu sein. Werte und Haltungen entwickeln sich einerseits durch konsequentes Vorbildsein und Vorleben, andererseits in der Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen und Erwachsenen. Auseinandersetzungen anzunehmen, sie mit Argumenten fair zu führen, eine für beide Seiten annehmbare Lösung zu finden oder sich einsichtig zu zeigen gegenüber besseren Argumenten – all dies sind wichtige Übungsmöglichkeiten zur Entwicklung der Konfliktfähigkeit.

      Ein Teil unserer Lehrtätigkeit besteht darin, exemplarisch und fair Auseinandersetzungen um Grenzen und Haltungen zu führen.

      Jugendliche sehen sich am Arbeitsplatz und in der Freizeit oft mit fragwürdigen Formen der Auseinandersetzung konfrontiert: Wegschauen, Ignorieren und Nichthandeln auf der einen Seite, unkontrollierte Macht- und Gewaltausübung auf der anderen Seite sind keine praktikablen Lebenswegweiser. Die berufliche Ausbildung soll Gelegenheit bieten, sich auch im Gebiet der Konfliktfähigkeit und der Streitkultur weiterzuentwickeln und erwachsenengerechte Formen zu erproben.

      Jugendliche wachsen zum Teil in einer Umwelt auf, die den Eindruck erweckt, alles sei möglich und alles sei relativ (im Sinne von anything goes). Es ist aber für ihre Entwicklung wichtig, dass sie auch Grenzerfahrungen machen, feststellen, dass zwar über alles debattiert werden kann, gewisse Werte zum Schutz des Zusammenlebens und der Schwächeren aber nicht verhandelbar sind.

      Physisch, psychisch und emotional präsent sein

      Lehrpersonen müssen über ein 360-Grad-Beobachtungsvermögen verfügen; sie beobachten Handlungen in ihrem Blickfeld, registrieren aber auch, was sich an dessen Rande abspielt oder sogar in ihrem eigenen Rücken – aber nicht im Sinne einer allgegenwärtigen Strafinstanz, sondern von umfassender Präsenz.

      Präsenz ist ein wichtiges Persönlichkeitsmerkmal erfolgreicher Lehr­personen. Wir meinen damit:

      • Physische Präsenz

      Die Lehrperson ist auch bei Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit präsent. Nicht als Aufsichtsorgan, sondern als Begleiter der Arbeit, der bei Bedarf um Unterstützung und Hilfe gebeten werden kann.

      • Psychische Präsenz

      Die Lehrperson zeigt ihre Begeisterung für ihren Lehrauftrag in ihrem Ausdruck (Haltung, Mimik und Gestik) und ihrer Lebendigkeit. Diese Begeisterung aufrechtzuerhalten, ist eine der großen Herausforderungen des Lehrberufes. Lernende reagieren, sobald sie den Eindruck bekommen, der Lehrberuf sei für die Lehrperson nur noch Broterwerb und Pflichterfüllung.

      • Emotionale Präsenz

      Die Lehrperson verfügt über einen emotionalen Radarschirm, d. h., sie nimmt einerseits die emotionale Gestimmtheit der Einzelnen, der Gruppen und der Klasse wahr und reagiert angemessen darauf.

      Die Angemessenheit ihrer Reaktion stützt sich andererseits auf den lebendigen Kontakt zur eigenen Stimmung. Diese beiden Voraussetzungen immer wieder in Balance zu halten, ist eine weitere große Herausforderung. Lernende finden Lehrpersonen, die ausrasten, uncool.

      Verliert die Lehrperson an Präsenz, reagieren viele Klassen mit Unruhe. Unruhe ist ein Signal, dass nicht mehr alles im Gleichgewicht ist.

      Sinnvoll begründete Leistungsanforderungen stellen und sie angemessen kommentieren

      In dieser Hinsicht hat die Lehrperson zunächst eine Bringschuld zu erfüllen, die in folgenden Vorleistungen besteht:

      • Die Lernvoraussetzungen sind geklärt. → Kapitel Überforderung