Bernhard Hampp

Berlin erlesen!


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der Humboldt-Universität ist innenarchitektonisch einem großen Bibliotheksregal nachempfunden. Wer dort schmökert, studiert und arbeitet, hat das Gefühl, selbst auf einem der Regalbretter in rötlich amerikanischem Kirschbaumfurnier zu sitzen. Entworfen hat den 20 Meter hohen Lesesaal, der treppenartig zu zwei Seiten hin ansteigt und nahtlos in die Freihandbibliothek übergeht, der Schweizer Architekt Max Dudler. Mit diesem Bau bekam die Berliner Humboldt-Universität 2009 nach rund 100 Jahren erstmals ihre eigene Zentralbibliothek. So lange war die traditionsreiche Bildungs- und Forschungseinrichtung Untermieterin der Staatsbibliothek gewesen.

      Das Zentrum bietet den 252 Bänden aus der sprachwissenschaftlichen Bibliothek ihres Gründers und Namenspatrons einen würdigen Platz. Auch, wenn die Universität 1809 zunächst nach dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. benannt wurde: Aus der Taufe hob sie der Berliner Universalgelehrte Wilhelm von Humboldt, der als Verantwortlicher für das preußische Kultus- und Unterrichtswesen sein Ideal der humanistischen Bildung durchsetzte. Das enorme Gewicht auf Bildung und Gelehrsamkeit darf als durchaus bemerkenswert gelten – in einer Zeit, da Preußen militärisch am Boden lag. Mehrere Niederlagen gegen den französischen Feldherrn Napoleon hatten das Land und seine Hauptstadt schwer gebeutelt. Die Verantwortlichen packten die Gelegenheit beim Schopf und modernisierten die Staatsverwaltung, wobei sich besonders die Minister Karl Freiherr vom Stein und Karl August von Hardenberg auszeichneten.

      Humboldts Universität stieg schnell zum Mittelpunkt des geistigen Lebens auf. Dafür sorgten nicht zuletzt Gelehrte wie der Stuttgarter Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der 1818 an die Hochschule berufen wurde. Mit seinem allumfassenden philosophischen System, in dessen Zentrum Werden und Versöhnung der Gegensätze stehen, begeisterte er Berlin. Nicht nur die Studenten strömten in die Vorlesungen, in denen der spröde Schwabe nuschelnd seine unerhörten Theorien erläuterte. Auch die bessere Berliner Gesellschaft hing an seinen Lippen: Was sagt Hegel zu einem neuen Theaterstück? Wie kommentiert Hegel die aktuelle politische Entwicklung? 1829 wurde Hegel Rektor. Zwei Jahre darauf starb er: Ob ihn die Cholera dahinraffte oder ein langjähriges Magenleiden, darüber scheiden sich bis heute die Geister. In jedem Fall begleitete ihn ein gewaltiger Leichenzug von seiner Wohnung im Kupfergraben bis zum Dorotheenstädtischen Friedhof. Ein Begräbnisredner verglich den Denker gar mit Jesus Christus. Die Bibliothek der Humboldt-Universität bewahrt in ihrer umfangreichen Porträtsammlung ein Bildnis Hegels auf. Er ist darauf im Schlafrock zu sehen: Auf dem Kopf trägt er das legendäre Barett – sein Markenzeichen, das er auch in Vorlesungen nicht ablegte.

      Die Zentralbibliothek ist nach zwei Brüdern benannt, die ebenfalls an der Berliner Universität lehrten und forschten: die Sprachforscher und Volkskundler Jacob und Wilhelm Grimm, bekannt als Herausgeber der Kinder- und Hausmärchen und des Deutschen Wörterbuchs. 1841 hatte sie der preußische König Friedrich Wilhelm IV. in seine Residenzstadt berufen und mit einer Pension ausgestattet. Ihre vorherige Wirkungsstätte, die Universität Göttingen, hatte sie 1937 entlassen: Sie hatten als Teil der Professorengruppe Göttinger Sieben gegen die Aufhebung der liberalen Verfassung protestiert. Beide lebten bis zu ihrem Tod in Berlin und liegen auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg begraben. In einem klimatisierten Raum hütet das Grimm-Zentrum die Privatbibliothek der Märchenbrüder. Die rund 6.000 wissenschaftlichen Bände enthalten vielfach Widmungen, Erwerbungsvermerke und handschriftliche Anmerkungen der sammelwütigen Gelehrten. Im Forschungslesesaal in der sechsten Etage können Nutzer sie auf Anfrage einsehen.

      Neben vielen weiteren Spezial- und Gelehrtenbibliotheken bewahrt das Zentrum das rund 13.000 Dokumente starke Archiv des 1827 gegründeten literarischen Vereins Tunnel über der Spree auf, dem unter anderem Theodor Fontane und der spätere Literaturnobelpreisträger Paul Heyse angehörten. Die Namen der großen Geister, die das Berliner Universitätsleben prägten, sind Legion. Zu ihnen gehört der Begründer der Quantenphysik, Max Planck. Er ist Namensgeber der Straße, die an der Westseite des Bibliotheksgebäudes vorbeiführt. Mit Verspätung wurde die Universität zur Wirkungsstätte exzellenter Wissenschaftlerinnen wie der Sozialreformerin Alice Salomon und der Atomphysikerin Lise Meitner. 1912 wurde die Mikrobiologin Lydia Rabinowitsch-Kempner als erste Frau in Berlin zur Professorin ernannt. Auch Robert Musil gehörte von 1903 bis 1908 zu denjenigen, die hier Vorlesungen besuchten. Er schloss an der Universität sein Zweitstudium der Philosophie und Psychologie mit der Promotion ab. Der Autor des eindringlichen Romans Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) brachte mehrere Phasen seines Lebens in der deutschen Hauptstadt zu. Beim Verleger Ernst Rowohlt in Berlin publizierte er ab 1940 sein dreibändiges Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften, das vom Taumel der K.-u.-k.-Monarchie in den Untergang erzählt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung der Stadt wurde die Universität zur prestigeträchtigsten Forschungseinrichtung der DDR. Humboldt-Universität zu Berlin heißt sie seit 1949.

      Mit dem Grimm-Zentrum ist die Bildungsstätte um ein Superlativ reicher: den größten zusammenhängend in Freihandaufstellung verfügbaren Bibliotheksbestand Deutschlands. Zwei Millionen der 2,5 Millionen Einheiten im Haus können von allen Benutzern jederzeit eingesehen werden. Integriert in das Zentrum sind außerdem zwölf Zweig- und Teilbibliotheken aus den Bereichen Geistes- und Kulturwissenschaften sowie Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Das Grimm-Zentrum bietet fast 1.400 Arbeitsplätze und verzeichnet täglich rund 5.200 Nutzer. Mit ihren weiteren Standorten gehört die Bibliothek der Humboldt-Universität sogar zu den deutschlandweit meistbesuchten wissenschaftlichen Bibliotheken.

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      Bücher im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität

      Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung

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      Und dann hörte er seinen eigenen Namen. Von diesem »psalmodierenden, gestikulierenden Teufelchen«. Erich Kästner selbst war Augen- und Ohrenzeuge auf dem Berliner Opernplatz an jenem 10. Mai 1933. Er vernahm, wie Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels geiferte. Wie er und seine Schergen wetterten gegen Schriftsteller wie Thomas und Heinrich Mann, Sigmund Freud, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Bertolt Brecht – und ihn, den Journalisten, Literaten und Satiriker Kästner. Der Autor stand im Regen, eingekeilt zwischen aufgehetzten Studenten in SA-Uniform. Er sah, wie die Bücher von Oppositionellen, jüdischen Autoren, Pazifisten, Lebensreformern, Feministinnen und anderen kritischen Schriftstellern ins flackernde Feuer flogen. Rund 20.000 Bücher brannten. Die aufgehetzten Studenten hatten ganze Büchereien geplündert: auch die Alte Bibliothek direkt am Opernplatz, die ab 1775 für die Büchersammlung Friedrichs des Großen erbaut und wegen ihrer geschwungen-barocken Form »Kommode« genannt wurde.

      Mit den Worten »wider den undeutschen Geist«, betitelten Hitlers Getreue ihre Kampagne. Für die betroffenen Autoren bedeuteten sie Berufs- und Publikationsverbot. Viele emigrierten daraufhin. »Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen«, hatte Heinrich Heine 1823 in seinem Drama Almansor geschrieben. Die Nazis machten dieses Diktum auf grausamste Weise wahr. Kritische Geister wie der Journalist und Friedensnobelpreisträger Ossietzky kamen in Konzentrationslagern zu Tode. Millionen Menschen folgten.

      Seit März 1995 erinnert am Ort des Geschehens, der heute Bebelplatz heißt, ein unscheinbares Mahnmal an die Bücherverbrennung. Zwischen dem Boulevard Unter den Linden, Hedwigskathedrale, »Kommode« und Oper ist eine Glasscheibe in das Kopfsteinpflaster eingelassen. Sie gibt den Blick nach unten frei. Zu sehen ist ein weißes Bücherregal aus Beton. 20.000 Bände hätten hier Platz. Doch das Regal ist leer. Deutlicher ist kaum zu zeigen, wie die Nazis dem Geistesleben in Deutschland und Europa den Garaus machten. Geschaffen hat das Mahnmal der israelische Künstler Micha Ullmann. Von ihm stammt auch der am Jüdischen Museum aufgestellte stählerne Kubus mit dem Titel Niemand.

      Bibliothek des Deutschen Historischen Museums

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      Bücher machen Geschichte. Das beweist das Deutsche