Stefan Thomma

Das Mündel des Apothekers


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verwirrt. Jetzt schlaf erst einmal und ruh dich aus. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«

      *

      Am darauffolgenden Abend peitschte der Schneeregen gegen die Butzenglasscheiben, die kaum noch Licht in das Haus ließen, als das Pochen an die Türe der Nördlinger Stadtapotheke immer heftiger wurde.

      »Hochwürden? Was verschafft uns die Ehre eines so ungewöhnlichen Besuchs?«

      »Ein Mündel?«, wiederholte die Haushälterin verblüfft.

      »Das hat schon seine Richtigkeit. Riesinger weiß, dass ich heute komme.«

      »Aha. Er ist oben in seinem Arbeitszimmer am Kamin. Ich werde Euch gleich bei ihm ankündigen. Kann ich Hochwürden etwas anbieten?«, fragte sie der Höflichkeit halber nach.

      »Macht Euch keine Umstände, ich bin in Eile«, murrte der hagere Kirchenmann im Vorbeigehen und war schon auf der Treppe, die in das obere Stockwerk führte. Seine knochigen Hände hielten sich bei jedem Schritt am Treppengeländer fest und hievten den dürren Körper Stufe um Stufe empor. Schmunzelnd blickte die Haushälterin in das zufriedene Gesichtchen des Neugeborenen.

      »Mein Gott, bist du ein süßes Kind. Jetzt werden wir uns erst einmal um dich kümmern.«

      »Mein lieber Benedikt«, begann der Pastor im Vieraugengespräch mit dem Apotheker, »es hat besser geklappt, als ich befürchtet hatte. Nur der Rückweg war sehr beschwerlich. Ich hoffe, der Herrgott wird uns verzeihen.«

      »Mit Sicherheit, Hochwürden. Danke für Eure Hilfe. Ich werde mein Wort halten. Die St. Georgskirche soll ihre Seitenorgel bekommen, wie Ihr es euch gewünscht habt. Und ich hab einen Erben und jemanden, der sich um mich kümmert, wenn ich alt und krank bin. Ach, noch etwas, Hochwürden. Ich brauche ja nicht zu betonen, dass unsere Unterhaltung hier nie stattgefunden hat. Und das Kindlein hat ein grausamer Mensch einfach in der Kälte vor der Kirche abgelegt.«

      »Ich unterliege der kirchlichen Schweigepflicht. Das versteht sich doch von selbst, werter Riesinger. Gehabt Euch wohl!«

      Kapitel 1

      Nördlingen, 9. Juli Anno Domini 1634 14 Jahre später.

      Ein heißer Luftschwall blies Katharina ihre strohblonden Locken ins Gesicht, als sie die Türe des Schulhauses öffnete und ins Freie hinaustrat. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits erreicht und verwandelte die Freie Reichsstadt in einen Backofen. Schon um 5 Uhr begann der Unterricht, als es noch kühl und der Gestank in den Gassen erträglich war. Der Stadtrat hatte zwar einige Verbote erlassen, doch es wurden nach wie vor die Inhalte der Nachtpfannen in den Gassen entleert und verendete Tiere mussten oft tagelang auf ihre Abholung warten.

      »Psst«, vernahm sie von der Seite.

      »Simon? Hast du etwa auf mich gewartet?«

      »Ja, ähm, ich wollte dich fragen, ob wir nicht später zur Eger … ich meine, ob wir uns nicht abkühlen sollten bei der Hitze«, stotterte Simon Mühlbichler mit hochrotem Kopf. Der sonst recht redegewandte Junge brachte gegenüber Katharina kaum einen ganzen Satz über die Lippen. Seit Wochen hatte er sich vorgenommen, das hübsche Apothekermündel anzusprechen, hatte es aber im letzten Moment immer wieder verschoben, weil er sich fürchtete, eine Abfuhr von ihr zu bekommen.

      »Mein Stiefvater ist am frühen Nachmittag meistens beim Bader, um Heilmittel auszuliefern. Da könnte ich mich eine Weile davonschleichen.«

      Sichtlich erleichtert stapfte der Zimmermannssohn neben seiner Angebeteten über das bucklige Kopfsteinpflaster, als sich ihnen hinter der nächsten Hausecke vier Halbwüchsige in den Weg stellten.

      »Na, was haben wir denn hier für ein hübsches Paar«, spottete ihr Rädelsführer. Katharina kannte ihn. Es war der Kaufmannssohn Wilhelm Hofmeister. Seine Eltern gehörten zu den reichsten Patriziern in der Stadt. Mit seinem feuerroten Haarschopf und der blassen Haut wirkte er kränklich, war aber von kräftiger Statur. Im Gesicht wuchs ihm nur ein leichter roter Haarflaum, obwohl er einige Jahre älter war als Katharina und Simon. In seiner Handfläche zappelte eine einbeinige Spinne und kämpfte gegen ihren bevorstehenden Tod an.

      »Die schöne Apothekerstochter und das hässliche Holzwürmchen. Weiß dein Vater, dass du dich mit bettelarmen Handwerkern herumtreibst, die sich nicht mal eine ordentliche Kleidung leisten können?«

      »Das geht dich nichts an. Lasst uns in Frieden!«

      Wilhelm trat einige Schritte auf Simon zu, packte ihn an seinem Hemdkragen und kam ihm dabei so nahe, dass sich ihre Nasen fast berührten.

      »Pass auf, was du tust, Holzwürmchen. Such dir das Weibsvolk unter deinesgleichen aus. Hast du mich verstanden? Und jetzt verschwinde, bevor wir dich windelweich prügeln.«

      »Hört sofort auf damit!«, schrie Katharina und stürmte auf Wilhelm zu. Sie ergriff seinen Arm, der noch immer Simons Hemdkragen zuschnürte, und biss mit aller Kraft in sein blasses Fleisch. Sofort ließ er von Simon ab, sprang einen Schritt zurück und brüllte laut auf:

      »Ah! Du elendes Miststück! Da meint man es gut mit euch Weibern und das ist dann der Dank dafür! In der Hölle sollst du schmoren! Los, kommt! Soll sie doch mit Bettlern ihr Nachtlager teilen!«, schimpfte er und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war.

      »Geht es dir gut, Simon?«

      »Geht schon wieder. Der Kerl hätte mir die Kragenweite beinahe auf null gestellt. Sollen wir trotzdem noch zur Eger heute?«

      »Gerne, ist ja keinem etwas passiert. Mit Mädchen in meinem Alter komme ich ohnehin nicht klar. Die sind neidisch, weil ich als Einzige auf die Lateinschule darf.«

      »Das hat bestimmt dein Stiefvater eingefädelt, weil er im Rat sitzt. Stimmt’s?« Katharina nickte und strich sich ihre Haarsträhne hinter das Ohr.

      »Am Baldiger Tor ist links ein kleines Waldstück. Da ist der beste Platz. Beim schiefen Baum. Ich werde auf dich warten«, versprach er und lief nach Hause.

      Wie Katharina geahnt hatte, packte Apotheker Riesinger nach dem Mittagessen einige Kräuter und Heilmittel in einen Korb.

      »Ich bin eine Weile außer Haus. Der Bader Fromme erwartet dringend meine Lieferung.« Katharina wusste genau, dass es ihm nicht um die Lieferung ging. Dazu hätte er auch sie schicken können. Vielmehr sehnte er sich nach einer Unterhaltung unter Fachleuten, und beim Bader traf man eben diesen und jenen.

      Kaum war Benedikt Riesinger außer Sichtweite, schlich sich das Apothekermündel aus dem Haus. Als sie die Stadt am Baldiger Tor verlassen hatte, blickte sie sich mehrfach um und fand schnell die Stelle, die Simon ihr beschrieben hatte. Doch sie war allein.

      Hat Mühlbichler kalte Füße bekommen nach dem Zusammentreffen mit Wilhelm?

      »Psst, hier oben!« Über sich sah sie Simon aus dem Fensterausschnitt eines Baumhauses auf sie herabschauen. Seine Gesichtszüge erhellten sich, als