Claudia Rimkus

Uhlenbrock


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      »Keine Ahnung.«

      »So genau wollte ich es gar nicht wissen.«

      »Keine Einschusslöcher, keine Stichwunden, keine Würgemale. Wären da nicht die Gesichtsverletzungen, würde ich sagen, der Mann ist friedlich auf der Bank entschlafen.« Er zog einen kleinen Zellophanbeutel hervor, den er dem Kommissar übergab. »Das hatte er in seiner rechten Hand.«

      Stirnrunzelnd betrachtete Hannes das Fundstück von allen Seiten.

      »Das ist …«

      »Ein Auge.«

      »Wurde es ihm entfernt?«

      »Es ist künstlich. Seine eigenen sind da, wo sie hingehören.«

      »Och nö.« Hannes wusste aus Erfahrung, worauf es hinauslaufen konnte, wenn ein Täter einen symbolartigen Gegenstand bei der Leiche zurückließ: Möglicherweise bedeutete das den Beginn einer Serie. Die Presse würde dem Mörder einen prägnanten Namen verpassen, Trittbrettfahrer würden die Ermittlungen behindern.

      »Ich weiß, was du befürchtest«, sagte Pia und nahm den Beutel von ihm entgegen. »Kann sein, muss aber nicht.«

      Er brummte etwas Unverständliches, bevor er sich an den Rechtsmediziner wandte, der mit einem Taschentuch über seine schweißnasse Glatze wischte.

      »Kannst du was zum Todeszeitpunkt sagen?«

      »Schätzungsweise zwischen 21 Uhr und Mitternacht. Vielleicht früher. Ich muss mich erst nach der Außentemperatur im möglichen Tatzeitraum erkundigen. Sowie ich mehr weiß, melde ich mich.«

      »Okay. Danke, Horst.«

      Unterdessen versammelten sich immer mehr Neugierige hinter dem Absperrband. Uniformierte Beamte hatten alle Hände voll damit zu tun, die Leute hinter der Barriere in Schach zu halten. Inmitten der Menge stand ein unscheinbarer Beobachter. Hinter der Fassade einer teilnahmslosen Miene verfolgte er das Geschehen mit Argusaugen.

      Kapitel 1,5

      Schaulustige! So sind sie, die angeblich normalen Menschen. Ob Mann oder Frau, arm oder reich, jung oder alt: Sie bleiben stehen und gaffen, wenn sie einen Unfall oder gar einen Toten sehen – egal, wie schrecklich dieser Anblick sein mag. Sie sind neugierig, ergötzen sich am Leid anderer und sind gleichzeitig erleichtert, dass es nicht sie selbst getroffen hat.

      Meine erste Leiche in dieser Stadt, in der alles begann, wirkt auf den ersten Blick nicht furchterregend. Dafür habe ich gesorgt. Ich habe mir viel Mühe gegeben, sie friedlich aussehen zu lassen. Hier, in der freien Natur, in diesem idyllischen Park, ist ein hübsches Plätzchen für einen Toten. Verdient hatte der Kerl es nicht, dass ich ihn dort deponiert habe, wo er sich gern aufgehalten hat, wenn er nachdenken wollte. Das steht sogar in seiner Biografie. Der alte Leibniz war sein Vorbild. Was für ein Gegensatz! Ein Versager bewundert ein Universalgenie. Den Fundort hier zu arrangieren, war die einfachste Lösung. Die Inszenierung in dieser beliebten Gartenanlage ist außerdem medienwirksam, weckt Aufmerksamkeit. Alle werden sich fragen, warum dieser ehrenwerte Mann auf so grausame Weise sterben musste. Erst wenn sie ihn aufschneiden, wird das ganze Ausmaß meiner Strafe sichtbar. Ich will, dass sie in seinem Leben herumstochern, jedes Steinchen umdrehen, bis die Wahrheit darunter hervorkriecht wie ein ekelhafter, glitschiger Wurm.

      Das ist aber längst nicht alles. Es ist erst der Anfang. Meine Liste ist lang. Wenn sie nicht die Verantwortung für ihr Versagen übernehmen, werden sie dafür bezahlen, was sie mir angetan haben. Ich kriege sie alle. Jeden Einzelnen. Keiner wird mir entkommen. Niemand kann sich schützen – denn ich bin wie ein Phantom. Ich schlage zu, wenn keine Menschenseele damit rechnet.

      Kapitel 2

      Einmal im Monat traf sich eine Handvoll Kollegen aus Ermittlerkreisen am Donnerstagabend in der Altstadtkneipe »Alibi« zum Stammtisch. Der umfangreiche Rechtsmediziner kam etwas früher als die anderen und bestellte eine Kanzlerplatte. Während er sich über die Riesencurrywurst mit Pommes hermachte, setzte sich Charlotte Stern zu ihm. Bis zu ihrer Pensionierung hatte sie das Kriminalarchiv geleitet und zählte seit Jahren zu diesem Freundeskreis.

      »Guten Appetit«, sagte sie statt einer Begrüßung. »Hoffentlich bekommen dir die vielen Vitamine.«

      »Passt schon«, erwiderte er grinsend, wobei er sie wohlgefällig musterte. Sie war zwei Jahre älter als er, wirkte aber jünger. »Ich hatte den ganzen Tag keine Zeit, was Vernünftiges zu essen. Im Gegensatz zu dir habe ich niemanden, der mich mittags bekocht. Vielleicht sollte ich auch in eine WG ziehen. Habt ihr zufällig ein Zimmer frei?«

      Amüsiert schüttelte sie den Kopf.

      »Leider nicht. Außerdem ist das eine Ruheständler-WG. Du müsstest deinen Job aufgeben, aber ohne deine Schnippelei hältst du es sowieso nicht aus.« Flink stibitzte sie ein Kartoffelstäbchen von seinem Teller. »Es sei denn, wir würden dich zu täglichem Küchendienst verdonnern.«

      »Horst ist für uns unentbehrlich«, sagte Hannes, der sich mit den Kommissaren Pia Wagner und Martin Drews zu ihnen setzte. »n’Abend zusammen.«

      Per Handzeichen bestellte er eine Runde Bier.

      Als die Getränke serviert wurden, war der Rechtsmediziner mit seiner Mahlzeit fertig. Zufrieden lehnte er sich zurück, faltete die Hände über seinem stattlichen Bauch und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen.

      »Alles klar bei dir?« Aufmerksam musterte Charlotte ihn. »Anscheinend habt ihr in der Rechtsmedizin zurzeit besonders viel zu tun.«

      »Aber nur, weil die Verbrecher immer verrückter werden.«

      Er tauschte einen Blick mit Hannes, der zustimmend nickte. Der Hauptkommissar wusste, dass Charlotte mit den Informationen nicht hausieren gehen würde. Im Gegenteil: Sie würde darüber nachdenken. So manches Mal hatte sie zur Lösung eines Falles beigetragen.

      »Oft genügt ein Loch in der Brust oder das Messer im Rücken, um die Todesursache zu erkennen«, fuhr Horst fort. »Plötzlich kommt so ein Killer daher, der sich für besonders schlau hält und so was wie eine Schnitzeljagd durch die Leiche veranstaltet. Oder er hat einfach nur alles, was ihm zur Verfügung stand, ausprobiert. Jedenfalls hat er seinem Opfer Drogen verabreicht, es gezwungen, mit einem langsam wirkenden Gift gewürzte Pizza zu essen, und ihm säurehaltige Getränke eingeflößt. Also muss einer wie ich rausfinden, was in welcher Reihenfolge verabreicht wurde, wie die einzelnen Substanzen für sich und in Kombination mit den anderen wirken. Erst das erlaubt Rückschlüsse auf die genaue Todesursache. Hinzu kommen zahlreiche Frakturen am ganzen Körper.«

      »Da fragt man sich, ob der Täter nur auf Nummer sicher gehen wollte oder ob er sein Opfer mit Genuss gequält hat.« Charlotte schaute einen nach dem anderen an. »Sprechen wir über den Toten aus dem Georgengarten? Seit er gefunden wurde, stand gar nichts mehr über ihn in der Zeitung.«

      »Morgen erscheint ein Bericht in der Presse«, warf Hannes ein. »Wir haben den Mann erst heute identifiziert.«

      »Immerhin. Ich erinnere mich an die Leiche, die Weihnachten 2016 im Georgengarten entdeckt wurde, im Teich beim Leibniztempel. Es hat mehr als zwei Jahre gedauert, bis der Tote identifiziert werden konnte. Im Gegensatz dazu ging das bei euch erstaunlich schnell.« Sie sah, dass Pia eine Grimasse schnitt, und konzentrierte sich auf sie. »Warum habt ihr kein Foto von ihm veröffentlicht, damit ihn schnell jemand erkennt?«

      »Das Gesicht war ziemlich zerschlagen«, sagte die Kommissarin. »Dadurch war eine fotografische Identifizierung nicht möglich. Der Tote sah wie ein Monster aus. Das hätten wir der Öffentlichkeit nicht zumuten können. Zumal es nichts gebracht hätte.«

      »Wir haben ihn über die Vermisstenmeldungen identifiziert«, fügte ihr jüngerer Kollege Martin Drews hinzu. »Enak Flachsbarth, 69 Jahre alt, pensionierter