Claudia Rimkus

Uhlenbrock


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auf ein Motiv? Oder einen Verdacht, wer den armen Mann ins Jenseits befördert haben könnte?«

      »Weder – noch.« Mit ernster Miene schüttelte Hannes den Kopf, bevor er vielsagend lächelte. »Hast du Blut geleckt, Charly? Du kannst es anscheinend immer noch nicht lassen.«

      »Ich halte mich da raus«, erwiderte sie zur Überraschung aller. »Meine Abenteuerlust ist erst mal gestillt.« Schelmisch blinzelte sie ihm zu. »Es sei denn, ihr kommt ohne meine brillante Kombinationsgabe nicht aus. Dann lasse ich mich vielleicht überreden, euch zu unterstützen.«

      »Never.« Er wollte verhindern, dass Charlotte womöglich erneut in Gefahr geriet. Deshalb erfuhr niemand etwas von dem gefundenen Auge oder der kleinen Sanduhr, die sie in der Jackentasche des Toten entdeckt hatten. »Nur über meine Leiche.«

      »Mach dir darüber keine Gedanken«, neckte sie ihn. »Zur Not finde ich gleich mit raus, wer dich auf dem Gewissen hat.«

      »Du solltest deinen Ruhestand genießen.«

      »Das tue ich.«

      »Ich habe eher den Eindruck, dass du in eurer Urnen-WG unterfordert bist.«

      »Bin ich nicht, aber meine grauen Zellen wollen hin und wieder mit kniffligen Aufgaben beschäftigt werden.«

      »Kauf dir ein Rätselheft für Fortgeschrittene«, schlug Horst vor, der viel für sie empfand. »Ich habe jedenfalls keine Lust auf schlaflose Nächte, weil du schon wieder ermittelst.«

      Sie tätschelte lächelnd seinen Arm.

      »Schau’n wir mal …«

      Im weiteren Verlauf des Abends sprachen sie nicht mehr über den Leichenfund.

      Charlotte wurde über ihr Leben in der WG ausgefragt. Sie stellte ihren Alltag mit komischen Begebenheiten dar, sodass viel gelacht wurde. Später berichtete Martin von seiner Beziehungskrise und erhoffte sich Ratschläge. Horst Fleischmann gab Anekdoten von der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Hamburg zum Besten, die er kürzlich besucht hatte. So wurde es ein unterhaltsamer Abend. Besonders den Kommissaren tat die Ablenkung von den laufenden Ermittlungen gut. Sie würden sich am nächsten Morgen erneut damit beschäftigen müssen, dem Verbrecher auf die Spur zu kommen.

      Kapitel 3

      Nach dem gemeinsamen Frühstück verließen die meisten der sechs Bewohner der Senioren-Wohngemeinschaft die große Küche. Professor Philipp Thaler, Gründer der WG und Besitzer des Hauses, zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. General a. D. Albert Scheuermann ließ sich zur Physiotherapie fahren, und Diplommeteorologe Conrad Lenz ging ein paar Schritte durch den spätherbstlichen Garten. Er hatte sich hinter dem Haus eine kleine Wetterstation mit Thermometer, Windrichtungsgeber und weiteren Messgeräten eingerichtet. Elisabeth Seegers, die nach ihrem Einzug in dieses Haus ihre Freude am Backen wiederentdeckt hatte, wollte ein neues Rezept für einen Apfelkuchen mit Marzipan und Rosinen ausprobieren. Während sie die Zutaten dafür zusammensuchte, setzte sich Charlotte mit der HAZ an den Küchentisch und vertiefte sich in den Leitartikel. Kurz da­rauf gesellte sich die oft »Strick-Liesel« genannte Anneliese Grothe zu den Freundinnen. Unaufgefordert reichte Charlotte ihr den Hannover-Teil der Tageszeitung.

      »Alter Schwede!«, entfuhr es ihr nach einer Weile, wo­rauf Charlotte fragend aufblickte und Elli über ihre Schulter schaute.

      »Was ist?«

      »Erinnert ihr euch an die Leiche, die am letzten Samstag im Georgengarten gefunden wurde?« Annelieses Blick wechselte zwischen den Frauen. »Hier steht, dass es schwierig war, den Mann zu identifizieren. Inzwischen weiß man, wer der Tote ist.« Sie atmete tief durch. »Stellt euch vor, ich kannte ihn.«

      Erstaunt hob Charlotte die Brauen.

      »Du kanntest diesen Flachsbarth?«

      »Woher weißt du, wie der … Ach, du hattest ja gestern Stammtisch – wahrscheinlich mit Infos aus erster Hand.«

      »Wir haben nur kurz über den Fall gesprochen.«

      Sie schob ihren Zeitungsteil beiseite und zog die vor der Freundin liegenden Seiten zu sich heran. Rasch überflog sie den Artikel. Danach betrachtete sie das abgebildete Foto. Es musste vor einigen Jahren aufgenommen worden sein, denn es zeigte keinen fast Siebzigjährigen, sondern einen etwa 50-jährigen Mann mit einer rahmenlosen Brille und wenig Haar.

      »Was hattest du denn mit ihm zu tun?«

      »Er war Psychologe beim Jugendamt. Unsere Wege haben sich manchmal beruflich gekreuzt. Er müsste aber seit ein paar Jahren im Ruhestand gewesen sein.«

      Verstehend nickte Charlotte.

      »Was war er für ein Mensch?«

      Vage zuckte Anneliese die Schultern.

      »Schwer zu sagen … besserwisserisch … Wenn er sich eine Meinung gebildet hatte, ließ er sich noch nicht mal durch logische Argumente umstimmen.«

      »Demnach könnte er Feinde gehabt haben.«

      Mit vorwurfsvollem Blick trat Elisabeth zu ihnen an den Tisch.

      »Das klingt, als würdet ihr mitten in Mordermittlungen stecken. Lasst euch dabei bloß nicht von Philipp erwischen.«

      »Wir unterhalten uns nur«, erwiderte Charlotte mit Unschuldsmiene. »Mach dir keine Sorgen, Elli. Die Polizei findet den Täter bestimmt ohne uns. Man soll sich sowieso nur bei der Kripo melden, wenn man sachdienliche Hinweise geben kann.«

      »Die haben wir nicht«, gab Anneliese zu. »Ich kannte den Mann ja nur beruflich – und das ist Jahre her.«

      Sie schaute zur Tür, als Philipp hereinkam. Er schenkte sich aus der Warmhaltekanne einen Pott Kaffee ein und setzte sich damit den Damen gegenüber. Dabei registrierte er die aufgeschlagene Zeitung, worauf Anneliese auf das abgebildete Foto deutete.

      »Sagt dir der Name Enak Flachsbarth etwas?«

      »Ist er tot?«

      »Wie kommst du darauf?«

      »Weil ihr euch anscheinend für ihn interessiert.« Sein wacher Blick wechselte zwischen ihnen. »Was berichtet die HAZ? Wurde er ermordet? Oder ist er nur unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen?«

      Charlotte unterdrückte ein Lächeln.

      »Anneliese hatte öfter beruflich mit ihm zu tun – und du vielleicht auch?«

      Nachdenklich fixierte er das Zeitungsfoto.

      »Hin und wieder wurde ich vom Gericht als zweiter Gutachter bestellt.«

      »Wozu war das nötig?«

      »Wenn es zum Beispiel um die Glaubwürdigkeit eines Jugendlichen ging. Flachsbarth war für die Begutachtung zuständig. Wenn nun der Rechtsbeistand des Angeklagten oder der Staatsanwalt an der psychologischen Beurteilung oder der Prognose zweifelte, wurde ein zweites Gutachten beantragt. Waren alle Beteiligten damit einverstanden, kam ich manchmal ins Spiel.«

      »Flachsbarth war außerdem zuständig, wenn eine Inobhutnahme durch das Jugendamt stattfand«, fügte Anneliese hinzu, die jahrelang eine Einrichtung geleitet hatte, in der überwiegend auffällig gewordene Kinder und Jugendliche betreut wurden. »Mitunter können Kinder wegen einer Notsituation nicht in der Familie bleiben. Manche haben psychische Probleme, sind enorm aggressiv. Es gibt viele Gründe, aus denen sie anderweitig untergebracht werden müssen.«

      »Verstehe«, sagte Charlotte, bevor sie Philipp anschaute. »Was hattest du für einen Eindruck von Flachsbarth? War er ein so netter und einfühlsamer Psychologe wie du?«

      »Natürlich nicht«, scherzte er, wobei er ihr zuzwinkerte. Er wurde aber gleich wieder ernst. »So gut kannte ich ihn nicht.«

      »War er kompetent?«

      Bedächtig wiegte er den Kopf.

      »Unsere