hören würde, dann würde sie sterben.
»Ich habe für Mary gesungen«, sagte die Banshee leise. Es klang, als wären ihre Worte der Wind, der über Gräber strich.
Stella sah sie fassungslos an.
Die Banshee ließ den Kopf hängen. »Ich musste es tun. Mylady Muerte hat ihre Rauchnebel ausgesandt.«
»Mylady Muerte?« Auch Stellas Stimme war nicht mehr als ein Wispern.
Die Banshee nickte. »Sie geht durch die Städte der Welt. Ihre Nebel sammeln die Seelen ein. Hier in London ist sie zu Haus.«
»Sie hat Mary«, stellte Stella fest.
Wieder ein Nicken der bleichen Frau mit dem Haar, das ebenso weiß wie ihre Kleidung war.
»Dann muss ich zu ihr. Ich muss Mary befreien«, wiederholte Stella, was sie auch schon zu den Kobolden gesagt hatte.
Die rotgeweinten Augen der Banshee sahen sie schreckerfüllt an. »Das geht nicht. Niemand geht zu Mylady Muerte, den sie nicht ruft. Und wen sie ruft, der ist tot.«
Stella schüttelte den Kopf. »Nein! Ich werde Mary retten.«
Und dann rannte sie wieder fort, wie sie auch zuvor von den Pixies fortgerannt war.
Niemand sollte sie aufhalten.
Sie wusste, dass es dumm war wegzulaufen. Niemand war da, der ihr helfen konnte bei der Suche nach Mary und jener Mylady Muerte, deren Nebel sie geholt hatten.
Nur die Pixies waren da, ganz nah. Manchmal konnte Stella den Glanz ihres Feenstaubes in der Luft flirren sehen.
Irgendwann wurden ihre Schritte langsamer. Wieder wusste sie nicht, wo sie war. Aber dass sie nicht allein war, das spürte sie mit einem Male. Nicht die Pixies waren es.
Etwas anderes.
Sie ging vorsichtig um die nächste Straßenecke.
Ein Pferd stand dort. Weiß wie Schnee, sein Hals glitzerte wie die Schuppen eines Fisches.
Ein Kelpie.
Diesen Wesen konnte man niemals trauen. Rasch überlegte Stella, was sie tun sollte. Umkehren? Mary und sie waren niemals umgekehrt.
An ihm vorbeilaufen, so schnell es eben ging? Der Wassergeist wäre schneller als sie, würde sie auf seinen Rücken werfen und mit ihr in die Themse reiten. Oder in ein anderes Gewässer. Dann aber, gerade als sie sich entschieden hatte, zum ersten Mal umzukehren und einen anderen Weg einzuschlagen, hörte sie eine leise Stimme, die sie zurückrief.
»Sternchen!« Sie hielt abrupt inne. Nur McWhistle, der alte Brownie nannte sie so. Seine milde Stimme war aus der Richtung des Kelpies gekommen. Sie sah das Pferd genauer an, trat sogar einige vorsichtige Schritte auf ihn zu.
Ein Lächeln stahl sich über ihre Lippen. Der Kelpie trug ein Zügel. Ein schlichtes, weißes Seil war es. Stella erkannte, dass es aus Spinnweben geflochten war.
Wer einem Kelpie einen Zügel anlegte, war sein Herr und Meister, bis er das Zaumzeug verlor. Der Kopf des Brownies tauchte hinter der zotteligen Mähne des Kelpie auf und grinste sie an.
McWhistle war ebenso wie die Pixies immer da gewesen. Hatte sie getröstet, als ihre Mutter gestorben war, ihr geholfen, wenn sie mit dem Haus nicht zurechtkam, das viel zu oft leer stand, weil ihr Vater selten da war. Ihr Vater liebte sie nicht, das wusste sie. Raschen Schrittes lief Stella auf den Brownie zu.
»McWhistle!« Der freundliche Hausgeist, der noch ein gutes Stück kleiner war als die Pixies, lächelte sie an. »Manchmal muss man sich einen Kelpie schnappen«, sagte er, als er Stellas fragenden Blick bemerkte. »Sie sind schnell. Und wir haben nicht viel Zeit.«
»Ich muss Mary retten«, sagte Stella und McWhistle nickte. »Ich werde dich zum Kaminkönig bringen. Er wird wissen, wo Mylady Muerte zu suchen ist, er treibt Handel mit ihr.«
»Der Kaminkönig?« Nie zuvor hatte Stella diesen Namen gehört. Aber McWhistle antwortete nicht, sondern bedeutete ihr nur, auf den Rücken des Kelpies zu steigen und schon im nächsten Moment galoppierten sie durch Londons Straßen, die sie schon bald in ihrem unersättlichen Hunger verschluckten und sie erst an ihrem Ziel freigaben. McWhistle ließ Stella abspringen, dann raunte er ihr zu, sich in Sicherheit zu bringen und gerade als sie sich hinter einem Gebüsch in einem Vorgarten verborgen hatte, sprang auch der Brownie ab und ließ das Zügel los. Mit einem zornigen Wiehern schüttelte der Kelpie ihn ab und verschwand in der Nacht.
»Wir müssen aufs Dach«, sagte McWhistle und lief mit ihr auf das Haus zu, öffnete mit einem leisen Hauch von Magie die Tür und führte sie über Treppen und Leitern hinauf auf die Dächer von London, auf denen schon immer eine eigene Welt gewesen war. Little Eric hatte davon erzählt. Schornsteinfeger war er, und am Abend, wenn es auf den Dächern zu gefährlich geworden war, kam er stets zu Mary und ihr und erzählte ihnen die Geschichten, die die Vögel mitbrachten oder die Schornsteine wisperten. Geheimnisse aus allen Häusern trugen sie hinaus. Little Eric liebte Mary, das wusste Stella. Einzig, er hatte sich nie getraut, es ihr zu sagen. Mary war deswegen bekümmert gewesen, denn auch sie liebte den Jungen mit den rußigen Wangen. Allein wegen ihm musste sie Mary retten. Sie sollten glücklich sein. Doch Little Eric war jetzt nicht hier, jetzt war nur McWhistle bei ihr, der sie zum Kaminkönig bringen würde, wer immer das sein mochte. Der Brownie balancierte mit ihr über die Dachfirste, von denen sie Big Ben und St.Paul’s in der Ferne sehen konnte. Es sah so aus, als wären Nebel auf dem Weg von der Themse in die Stadt. McWhistle trieb sie zur Eile an und führte sie mit einem Sprung auf das nächste Dach. Stella hatte keine Angst zu fallen. Die Pixies würden sie fangen. Sie rannten weiter, die kleinen Stiefel des Hausgeistes klackerten, und Stella folgte ihm, bis sie vor einem Kamin standen, der höher in die Luft ragte als andere. Helle Rauchschwaden schlängelten sich lautlos in den nächtlichen Himmel.
»Hier können wir ihn treffen«, wisperte McWhistle. »Aber pass auf. Seine Hilfe ist nicht umsonst. War sie nie. Wird sie nie sein.« Stella nickte.
Was war schon umsonst?
»Ich muss Mary retten«, wiederholte sie und machte damit klar, dass ihr kein Preis zu hoch sein würde. McWhistle nickte und klopfte dreimal gegen den Schornstein. Zuerst passierte gar nichts, aber dann wandelte sich der Rauch. Schneller und schneller stieg er in immer dunkler und dichter werdenden Massen in den Himmel, doch er verzog und verschleierte sich nicht, wie Qualm es normalerweise zu tun pflegte. Er blieb, baute eine Gestalt ähnlich der, die auch Mary mit sich genommen hatte. Gerade, als die Angst in Stella aufsteigen wollte, trat aus dem Qualm ein Mann, dessen Haar und Augen so schwarz waren wie der Ruß, aus dem er gerade entstiegen war.
Wie Little Eric trug auch er die dunkle Kluft der Schornsteinfeger.
Er betrachtete den Brownie eingehend, als wolle er prüfen, wer es gewagt hatte, seine Ruhe zu stören. Dann erst sah er Stella an, hinter sich die Rauchschwaden aus den Kaminen der Stadt, die sich zu sammeln schienen.
»Was«, fragte er und die Worte klangen so heiser, wie der Rauch selbst schmeckte, »kann ich für dich tun, Prinzessin des Koboldkönigs?«
Nie zuvor hatte jemand sie so angesprochen. Stella brachte kein Wort hervor.
McWhistle war es, der ihm eine Antwort gab. »Zu Mylady Muerte wünschen wir zu gelangen.«
Der Kaminkönig mit seiner blassen Haut zog eine Augenbraue nach oben. »Ein Brownie will Mylady beehren?«
Der Hauskobold schüttelte schnell den Kopf. »Mitnichten, Sir, mitnichten. Stella – die Prinzessin«, verbesserte er sich, »ist auf der Suche nach ihr.«
Der Kaminkönig neigte den Kopf zur Seite. »Es gibt einfachere Wege für die Sterblichen, den Tod zu finden. Selbst für jene, die unter eurem Schutz stehen.«
»Ich will nicht sterben«, warf Stella ein. »Ich möchte nur Mary retten. Die Nebel haben sie mitgenommen. Ich will Mylady Muerte bitten, sie freizulassen.«
Über die Lippen des Kaminkönigs huschte ein Lächeln, das nach einem Wimpernschlag erstarb und sich in eine spöttische Miene