Fabienne Siegmund

Das zerbrochene Mädchen


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Stella sah Gesichter. Sie erkannte keines. Little Eric barg die Augen in den Händen. Er war es nicht gewohnt Dinge zu sehen, die es nach normalem Ermessen nicht geben konnte. Stella blickte Mylady Muerte entgegen. Wunderschön war sie. Schwarze Locken umrahmten ein blasses, ovales Gesicht, das denen von Porzellanpuppen glich, nur dass nichts ihre Wangen rötete. Ihre Augen waren durch und durch dunkelblau, sie hatte keine Iris, es tanzten nur goldene Punkte durch das Blau, als wären sie die Sterne in einer ewig währenden Nacht. Unwillkürlich verbeugte sich Stella. Die Frau, die ein schwarzes, hochgeschlossenes Kleid trug, das an der Taille von einer Korsage geschnürt war und am Rock durch einen Reif weit von ihrem Körper fiel, nickte leicht und trat dann einen Schritt zur Seite, woraufhin sie den Blick auf die Person freigab, die bislang hinter ihr verborgen war: Mary. Ohne weiter auf Mylady Muerte zu achten, stürzte Stella mit einem stummen Schrei auf den Lippen zu ihrer Freundin. Die beiden Mädchen umarmten sich mit Tränen in den Augen. Marys Stimme, die sie freudig begrüßt hatte, verstummte, als sie begriff, welches Opfer es der Freundin gekostet hatte, hierher zu kommen und sie erklang erneut, als sie Little Eric erkannte, der immer noch mit den Händen vor dem Gesicht da stand. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und griff dann mit der anderen Hand nach der seinen, als er sie hatte sinken lassen und auch sie sich in die Arme gefallen waren. So standen sie zu dritt da, umwoben von den Nebelgestalten, die immer wieder ihre Form verloren. Stella begriff, dass sie dafür den Rauch der Schornsteine brauchten. »Noch nie kam jemand zu mir, um die Seele eines anderen zu befreien«, sagte Mylady Muerte. Auf ihren Lippen lag ein leises Lächeln. »Aber es wurde auch nicht jeder vom König der Kobolde geküsst.« Mary und Little Eric sahen Stella fragend an, aber sie blickte nur auf die Frau in Schwarz mit den Augen der Nacht.

      »Du hast deine Lieder beim Kaminkönig gelassen«, meinte diese gerade. Stella nickte. »Das war sehr großherzig von dir.«

      Stella wollte sagen, dass Mary ihr das Wichtigste sei, aber dann ließ sie ihre Finger auf dem Zeitungspapier ruhen, weil sie wusste, dass das Mylady Muerte längst bekannt war. Stattdessen ließ sie ihre Blicke neben sich huschen, wo Mary und Little Eric in einer Umarmung standen, als hätte es nie eine Zeit gegeben, in der sie sich nicht umarmt hätten. Stellas Herz schlug vor Freude ein wenig schneller, als sie das Glück ihrer besten Freundin sah. Aber dann räusperte sich Mylady Muerte und führte ihr wieder vor Augen, dass es mitnichten ein Happy End war. Weil es noch nicht zu Ende war. »Nichts endet«, meinte Mylady Muerte und Stella fragte sich, wo sie das bereits gehört hatte, aber sie hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, denn die Lady fuhr bereits fort: »Und doch — auch wenn es mir imponiert, dass ihr, ohne auch nur einen Moment zu zögern für die, die ihr liebt in mein Reich gekommen seid, ich kann euch euren Wunsch nicht erfüllen. Wen ich einmal zu mir rufe, der bleibt bei mir.« Stella sah, wie Mary sich von Little Eric löste und ihm ein Lächeln schenkte, als ob sie sagen wollte, dass das schon in Ordnung sei, jetzt, da sie wusste, dass er sie auch liebte. Aber Stella fand es nicht in Ordnung. Sie trat vor, auf Mylady Muerte zu und ihre Finger hasteten über das Stück Zeitungspapier, das ihr als Stimme diente. Als sie innehielt, sah die Lady sie eine ganze Weile an, wog das Angebot, das Stella ihr gemacht hatte, ab.

      »Das ist ein hoher Preis, den du zu zahlen bereit bist, Stella Koboldprinzessin«, meinte sie schließlich. Stella nickte, und neben ihr schnappte Mary nach Luft, denn sie hatte verstanden, was die Freundin tun wollte. »Nein«, entfuhr es ihr, aber Mylady Muerte befahl ihr mit einer Geste zu schweigen.

      »Ich glaube, ich würde dein Angebot sogar annehmen«, meinte sie. »Aber ich kann es nicht. Du bist die Prinzessin des Koboldkönigs.«

      Traurig sank Stella in sich zusammen. So einfach wäre dieser Handel gewesen. Mary hätte mit Little Eric und dem Streichholz gehen sollen, und sie wäre geblieben. Die Raben krächzten, als es zu lange still blieb im Kreis der Nebelkinder.

      »Ich bleibe«, sagte Little Eric auf einmal. Die ganze Zeit hatte er kein Wort gesagt, hatte nur seine Mary gehalten und ihr ab und an einen Kuss ins blonde Haar gedrückt, der mehr gesagt hatte, als tausend Worte es vermochten. Mary japste erschrocken auf, Stella tat es ihr nach.

      Die Mylady Muerte wandte sich dem jungen Schornsteinfeger zu. Ihre Nachtaugen musterten ihn. »Auch das ist ein hoher Preis«, meinte sie.

      Little Eric nickte. »Warum willst du ihn zahlen?« Stella sah, dass auch Little Eric längst wusste, dass Mylady Muerte den Grund schon kannte. Aber er sagte ihn trotzdem. »Ich liebe Mary«, begann er, »und ich weiß, dass Mary Stella liebt wie eine Schwester. Keine von beiden könnte ohne die andere glücklich werden.« »Aber Mary liebt auch dich«, sprach die Lady aus, was Mary Little Eric bislang nur durch Blicke gesagt hatte. »Gerade deshalb. Ich bin glücklich, und schon mein Vater hat gesagt, dass wenn man so glücklich ist, dass einem das Herz zerspringt, man beruhigt vom Dach fallen kann.« Mary drückte sich an ihn, und Stella betrachtete traurig Mylady Muerte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, dass Mary und Little Eric glücklich sein sollten. Aber scheinbar hatte die Banshee ihr Lied nicht für sie gesungen. Würde es vielleicht niemals singen. Mylady Muerte räusperte sich. Ihre Nachtaugen leuchteten wie Sterne, hell und dunkel zugleich. »Ich würde euch gerne alle zurück in die Stadt an der Themse lassen«, sagte sie leise, »aber das geht leider nicht. Denn auch ich habe die Regeln nicht gemacht. Ich kann keine Seele einfach so loslassen. Eine andere muss dafür bleiben. Und auch das ist nur eine Ausnahme.« Little Eric nickte.

      Mary gab ihm einen Kuss, der so schwer wog, dass alle Küsse einer großen Liebe in ihm Platz fanden. Dann löste sie sich von ihm und stellte sich neben Stella. Little Eric blieb einfach stehen, und Mylady Muerte trat neben ihn.

      »Ich will euch ein Geschenk machen«, sagte sie, »denn wenn die Koboldprinzessin ihre Lieder gibt, darf dies nicht umsonst geschehen. Doch gut Ding will Weile haben — Nebel müssen fließen und Raben singen. Es wird kommen, wenn es an der Zeit ist.«

      Sie neigte den Kopf zum Abschied und dann verschwanden sie alle: Mylady Muerte mit ihren Raben, die Nebelkinder und Little Eric.

      Stella sah Mary an, halb lächelnd und halb traurig und zündete das dritte Streichholz des Kaminkönigs an.

      Wie verheißen, brachte das Zündholz sie wieder nach London, setzte sie an den Ufern der Themse ab, wo Big Bens Turm über die Stadt wachte. Sofort tasteten kleine Hände sie ab und der Feenstaub kitzelte sie in der Nase. Selbst Mary wurde von den Pixies begutachtet. Auch wenn sie es nicht sehen konnte, sie fühlte es.

      In den nächsten Tagen und Nächten erzählte Stella Mary alles. Vom Kuss des Koboldkönigs bis hin zu dem Kaminkönig.

      Und dann ging das Leben weiter.

      Die Stadt, in der alles lebendig war, bekam ein Auge, das sich drehen konnte. Die Mädchen fuhren oft in den gläsernen Gondeln des Riesenrades.

      Sie sprachen oft über Little Eric und Mylady Muerte und dachten darüber nach, was wohl das versprochene Geschenk sein könnte.

      Eines Nachts, der Winter streckte langsam seine Finger nach der Stadt aus, setzte sich mit einem Male ein großer Rabe auf die Gondel, in der sie saßen und klopfte dreimal mit dem Schnabel gegen das Glas.

      McWhistle, der auf Stellas Schoß saß, flüsterte ihr zu, sie solle ihn hereinbitten.

      Stella tat wie geheißen und sagte deutlich: »Herein.«

      Der Rabe auf dem Gondeldach neigte kurz den Kopf, klopfte dann noch einmal an das Glas und flog plötzlich davon, über die Themse hinweg Richtung Tower.

      Stella blickte den Brownie an, doch McWhistle sagte nichts. Und gerade, als Stella ihn fragen wollte, schlich sich Nebel in die Gondel, Nebel, der gefüllt war mit dem Ruß der Kamine.

      Erschrocken hielten die beiden Freundinnen einander fest, in ängstlicher Erwartung wen die Jäger der Mylady Muerte nun holen wollten.

      Doch dann baute sich die Gestalt aus Nebel und Rauch vor ihnen auf. In ihrem Inneren glitzerten sanft ein paar Sterne.

      Und als Mary das Gesicht des Schornsteinfegers erkannte, löste sie sich von Stella und fiel dem Nebeljungen in die Arme, der sie so fest drückte, wie er konnte, weil in London alles lebendig war.

      Das Wasser der Themse.

      Die