Fabienne Siegmund

Das zerbrochene Mädchen


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nicht die Wolken des Himmels. Deine Augen waren voller Schatten, die ihre Dunkelheit jeden Tag stärker auf dich warfen, an dem ich mit dir zusammen war.

      Ach Julie, warum hast du es zugelassen? Warum bist du wieder zu mir gekommen, obwohl du es doch gewusst hast, es mir sogar am ersten Tag sagtest?

      War es bereits zu spät, weil der Schmetterling mit seinen Flügeln geschlagen hatte? Oder wolltest du es, irgendwie?

      Aber noch war es nicht soweit, in dem Moment, als wir uns an diesem Tag trafen, lag noch der Sommer in meinen Augen. Sie haben sich in deinen gespiegelt, braun, so wie immer, und doch erfüllt von einem Leuchten, dass ich vielleicht nie kannte, vielleicht auch einfach lange nicht mehr in ihnen gesehen hatte.

      Wie ich schon sagte, du hast gelächelt. Und mich umarmt. Der Geruch von Orangen umgab dich, und wäre nicht der Eiffelturm über uns in den Himmel gewachsen, hätte ich gedacht, an einem anderen Ort zu sein, einem, der nur uns zugänglich ist.

      Vielleicht waren wir auch in diesem Himmel, für diese eine Sekunde. Dann aber hast du dich von mir gelöst und der Eiffelturm, die Menschen um uns, die vielleicht, wie ich, täglich deiner Stimme lauschten, waren wieder da.

      »Willst du es sehen?«

      Das hast du gefragt. Ich wusste, was mit »es« gemeint war, sofort. Dein Orangenbäumchen.

      Oh Julie, warum diese Frage? Du hast genau gewusst, dass ich nicht ablehnen würde. Du wusstest alles von mir, selbst die Geschichte mit dem Orangenbäumchen, die ich dir, ich bin sicher, nie erzählt hatte.

      Du wusstest, was geschehen würde. Mit mir, der der Winter werden würde, wie ich es schon einmal gewesen war. Heute weiß ich es wieder – doch an diesem dritten Tag – da wusste ich nichts. War nur betört von deinem Duft, von deinem Lächeln und dir – ja, Julie, du bist mein Glück gewesen – und ich wollte dein Glück, deine Freude, dein Leben kennenlernen. Dein Orangenbäumchen.

      Ich hatte nicht vergessen, was du mir darüber erzählt hattest – es war ja nur einen Tag her. Niemand dürfte es je berühren. Niemand seine Blüten pflücken. Niemand seine Früchte kosten. Und niemals, nein, niemals dürfte es welken.

      Ich weiß jetzt, welche Bedeutung all dies hat. Aber ich weiß es erst heute. An diesem Tag, dem dritten, den wir hatten, wusste ich es noch nicht, und so folgte ich dir in deine Wohnung in den Straßen Montmartres, wo die Bilder in den Gassen liegen und nur warten, von den Malern eingefangen zu werden.

      Doch heute ist es zu spät. Heute bis du fort. Seit drei Tagen schon.

      Deine Wohnung war schlicht eingerichtet, weiße Möbel setzten sich gekonnt von dem dunklen Holz des Bodens ab, so dass der Eindruck erweckt wurde, dass die Dinge aus der Dunkelheit herauswuchsen und zugleich in sie hineinreichten – wie Tag und Nacht, Nacht und Tag.

      Nirgends waren Bilder oder anderer Zierrat, es gab Bücher mit Gedichten, ein Grammophon, das viel zu alt schien, um von dir bedient zu werden, aber perfekt zu dir passte, und Schallplatten. Überall waren Schallplatten.

      »Aus ihnen suche ich die Lieder für die Sendung aus«, war deine Antwort auf meine Frage nach ihnen.

      Dann hast du mir das Orangenbäumchen gezeigt. Es stand auf der Fensterbank, eine kleine Oase in deiner kargen Wohnung. Die drei Orangen, die an seinen Ästen hingen, schienen wie Sterne an einem kleinen, grünen Himmel.

      Unwillkürlich habe ich die Hand danach ausgestreckt, doch noch ehe ich das Bäumchen berühren konnte, hast du sie schon weggezogen.

      »Nicht berühren«, hast du geflüstert und meine Hand stattdessen zu deiner Wange geführt.

      »Ich kann ein Orangenbäumchen wachsen lassen.« Das stimmte, ich konnte es wirklich. Es war ein Trick, einer, den ich lange schon vergessen hatte und der jetzt wieder da war.

      »Ich weiß.« Du hast mich angelächelt.

      Warum, Julie, warum habe ich nicht gefragt, woher du es wusstest? Nie hatte ich dir von dem Trick erzählt, ihn dir nie gezeigt.

      Ich tat es nicht, ich ließ meine Hand ruhig auf deiner Wange liegen. Wartete ab, was geschehen würde.

      Es passierte nicht viel – doch manchmal sind es gerade die kleinen Dinge, die die Macht innehalten, alles zu verändern.

      Du hast mir einen Kuss auf die Wange gehaucht.

      Das war alles.

      Und dann hast du den kleinen Raum verlassen, mich allein mit dem Orangenbäumchen gelassen, das so wichtig für dich war. Hast du es mit Absicht getan, Julie? Ich wünschte, du könntest mir eine Antwort geben. Aber du kannst nicht. Du bist nicht hier.

      Ich hörte, wie Schränke auf und wieder zugingen, Gläser klirrten. Wahrscheinlich wolltest du etwas zu trinken holen – ich habe nicht näher darauf geachtet. Ich war schon betrunken – betrunken vor Glück.

      Ich konnte wieder Zaubern.

      Die Magie hatte mich wieder – oder ich sie.

      Die Illusion des Orangenbäumchens war mir wieder in den Sinn gekommen.

      Doch nur die Illusion. Nicht die Erinnerung, die damit verbunden war.

      Du hast es gesehen. Vielleicht war ich überhaupt nur deswegen hier. Weil du wusstest, was ich tun konnte. Vielleicht hast du es gewollt. Aber hattest du es wirklich so satt? Ich wollte dein Glück sein, Julie. Doch ich war dein Untergang. Und ich glaube, du hast mich dazu gemacht.

      Ich trat zu deinem Orangenbäumchen. Berührt habe ich es nicht, wirklich nicht – ich habe mich nur ganz dicht herangebeugt, so dass ich den Duft der Orangen in mich aufnehmen konnte. Deinen Duft. Und dabei flüsterte ich, was ich nicht mal hätte denken dürfen: »Wir werden immer zusammen sein.« Der Luftzug, der diese Worte, die kein romantisches Versprechen waren, sondern blanker Eigensinn, traf dein Bäumchen. Die Blätter zitterten stärker, als sie hätten zittern dürfen.

      Etwas – wahrscheinlich ein Glas – zerschellte im Nachbarzimmer klirrend auf dem Boden.

      Ich sah mich um – sah zu der Tür, hinter der du verschwunden warst – nichts, nur Stille. Dann sah ich zurück zu dem Orangenbäumchen. Langsam, ganz langsam nur, breitete sich eine Eisschicht über den Blättern aus, bedeckte die drei Früchte mit einem weißen Mantel und ummantelte schließlich auch Äste und Stamm.

      Eine Bewegung hinter mir. Schnelles Umdrehen, Herz und Atem stockten für den Bruchteil der Sekunde, in der ich auf dich zustürzte. Du hast dich am Türrahmen festgehalten und mich angeschaut – mit einer Mischung aus trauriger Gewissheit, Schmerz und seltsamerweise Erleichterung in den Augen, die jetzt tief grün waren – wie die Blätter an deinem Orangenbäumchen noch wenige Augenblicke zuvor.

      Ich dachte, dass du mich anschreist, mir Vorwürfe machst, doch du hast gar nichts gesagt, nicht ein Wort. Du hast gelächelt, Julie, wie du immer gelächelt hast, obwohl deine Haut genauso weiß wurde, wie die Eisschicht auf dem Bäumchen. Dann – ich kann nicht sagen, was genau geschah – ich glaube immer noch, dass meine Augen mir einen Streich spielten, eine Illusion, wie ich sie sonst nur vorzuführen wusste – warst du weg. Fort, als hätte es dich nie gegeben, als wäre ich immer schon allein in dieser fremden Wohnung gewesen.

      Nur dein silberner Schmetterling war noch da. Von der Kette gelöst, flatterte er auf mich zu, an mir vorbei. Immer noch voller Magie. Er flog zu dem gefrorenen Orangenbäumchen und seine Flügelspitze – nicht mehr – streifte eines der Blätter.

      Mit einem Klirren, gleich dem des Glases zuvor, zersprang es. Nur die drei Orangen blieben heil und plötzlich von ihrer Eisschicht befreit, im Topf liegen, auf einem weißen Berg aus Scherben. Für einen Moment verharrte der Schmetterling über ihnen, flatterte mit den silberblauen Flügeln, so schnell und rasch, dass in ihnen eine Melodie zu hören war, die an dein Lachen erinnerte, Julie. Dann verschwand er – und ich verstand, obwohl ich immer noch nichts wusste.

      Die drei Orangen. Sie hatten eine Bedeutung.

      Doch ehe ich auf ihren Sinn kam, sah ich mir das Orangenbäumchen an, das nur noch ein Haufen fester, eisiger