Fabienne Siegmund

Das zerbrochene Mädchen


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      Ich betrachtete die drei Orangen. Dann die Scherben.

      Dann verließ ich deine Wohnung. Weil ich nicht weiterwusste. Deinen Schlüssel nahm ich mit, ich wusste, ich würde wiederkommen. Was, so dachte ich, war mein Leben ohne dich? Mein Glück?

      Aber es ist immer das Glück, dass verschwindet, wenn man zu sehr versucht es zu halten. Das kleine Wörtchen immer – aus meinem Mund wie eine Fessel – hat es verscheucht. Hat es erfroren.

      An diesem Abend schwieg das Radio zu deiner Sendezeit.

      Das Kaleidoskop drehte sich weiter, unaufhaltsam.

       IV

      Ich schlief nicht in dieser Nacht. Mir fehlte dein Lächeln, deine Stimme, die es stets verstand, alles Leid zu lindern, die Schmerzen zu stillen und die Traurigkeit in Mut zu verwandeln – und ich bin sicher, dass es allen so ging, die allabendlich deinen Worten gelauscht hatten.

      Ich habe nachgedacht, Julie, unsere drei Tage Revue passieren lassen. Und festgestellt, dass ich nichts Wirkliches über dich erfahren habe, während du alles über mich wusstest, selbst die Dinge, die ich dir nie erzählt hatte, weil ich sie selbst nicht mehr gewusst habe.

      Der Trick mit dem Orangenbäumchen.

      Ja, ich kenne ihn, kann ihn vorführen, ich tat es sogar noch in dieser Nacht, Zuschauer allein mein Spiegelbild. Doch woher kannte ich ihn? Von meiner Familie? Auch sie waren Magier. Von jemand anderem?

      Und was hat dein Bäumchen damit zu tun? Dein Bäumchen, das dir so viel bedeutete, soviel für dich war.

      Heute glaube ich, dass es dein Herz war, Julie. Habe ich Recht? Habe ich dein Herz gebrochen, als ich dich, mein Glück, festhalten wollte?

      Und wenn – warum hast du es zugelassen?

      Ach Julie, auch darauf meine ich heute die Antwort zu wissen. Auch du warst nichts als eine Verfluchte, so wie wir alle in gewisser Weise einen Fluch auf uns tragen. Ich kann der Winter sein.

      Ich war es in dem Moment, als ich dein Bäumchen erfrieren ließ.

      Hattest du nicht noch kurz davor den Sommer in meinen Augen gesehen? Den Herbst haben wir beide nicht erkannt, so wie man ihn manchmal nicht zu sehen vermag, wenn die Tage zu sehr dem Sommer gleichen. Oder hast du ihn nur verschwiegen?

      Als der Morgen anbrach, war ich bereits wieder in deiner Wohnung. Das Eis hatte sich auf alles gelegt – nur die drei Orangen lagen immer noch strahlend wie drei kleine Sonnen im Wintermeer auf den Scherben. Ich habe sie vorsichtig beiseite gelegt, dann habe ich den Topf mit den Baumscherben genommen und mich an deinen Tisch gesetzt. Stück für Stück, Splitter für Splitter habe ich genommen und wie ein dreidimensionales Puzzle zusammengefügt, gefrorene Scherben, nicht mehr als die Erinnerung an das, was sie einst waren – dein Leben. Deine Freude. Dein Glück.

      Ich dachte, wenn ich es wieder zusammensetze, wäre alles wieder gut. Aber so einfach lässt sich nichts reparieren, was zerbrochen ist. Es bleiben immer Risse. Und manchmal hält man das wichtigste Stück in den Händen, ohne es zu sehen.

      Ich konnte dein Bäumchen nicht zusammensetzen. Immer, wenn ich es fast hatte, fehlte ein Stück. Ich habe die ganze Wohnung danach abgesucht und nichts gefunden. Wirklich Julie, ich habe überall gesucht. Nur an einer Stelle nicht – bei mir.

      Denn das Stück, das fehlte, war das gleiche, was auch meine Magie vermisst hatte. Ein Traum, ein Wunsch. Der richtige Traum, der richtige Wunsch.

      Ich habe mir gewünscht, dass mein Glück zurückkehrt, Julie, jede Sekunde, die ich die eisigen Scherben zusammensetzte.

      Ich hätte mir wünschen sollen, dass du zurückkommst. Um deiner selbst Willen. Aber ich tat es nicht.

      Und so kam ein Windstoß, wie die Erinnerung an Falterflügelflattern, ließ es wieder in sich zusammenfallen. Wieder und wieder, bis ich aufgab, mit fast erfrorenen Fingern und blauen Lippen. Deine Wohnung war ein Eispalast – wie die Welt auch ohne dich ein Stück kälter geworden war.

      Als ich meine Hände aneinander rieb, fiel mein Blick auf die drei Orangen, einzig nicht erfroren. Ich entsann mich, was drei Dinge bedeuten konnten.

      Drei Wünsche einer Fee.

      Drei Haselnüsse voller Wunder.

      Drei Orangen.

      Drei Chancen.

      Es war der zweite Abend, an dem das Radio schwieg. Die Welt hätte ebenfalls schweigen sollen. Aber sie drehte sich weiter. Wie das Kaleidoskop.

       V

      Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann das Muster im Kaleidoskop des Lebens in Bewegung setzen, alles verändern.

      Dein Muster blieb stehen, als dein Bäumchen zerfiel.

      Meines veränderte sich, in wilden Farbwirbeln, die sich immer dunkler färbten.

      Die drei Orangen lagen vor mir. Ich betrachtete sie von allen Seiten. Was sollte ich mit ihnen machen? Sie aufschneiden? Schälen? Auspressen? Etwas ganz anderes?

      Drei Versuche.

      Eine Entscheidung.

      Schälen.

      Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, als ich die Schale langsam abzog. Ein Wunder vielleicht? Einen Schmetterling, der dich zurückbringt?

      Alles, was ich fand, war eine Orange. Mit ihren Spalten, dem weißen Inneren der Schale und den kleinen Zwischenhäuten. Als ich die Stücke nacheinander vom Ganzen trennte, ertasteten meine Finger Kerne. Aber nichts sonst, nichts Besonderes.

      Und jetzt?

      Ich nahm eine Spalte in die Hände. Betrachtete sie von allen Seiten, hielt sie ins Licht. Nur eine Orangenspalte.

      Schlussendlich steckte ich das Stück in den Mund. Die anderen auch. Aß die ganze Frucht. Nur die Kerne spuckte ich aus.

      Ich hatte nicht vergessen, dass niemand die Früchte deines Orangenbäumchens kosten sollte. Aber was sollte noch passieren? Jetzt, da ich es schon zerstört hatte?

      Zuerst passierte nichts. Ich saß immer noch an meinem Tisch, vor mir die Orangenschalen und zwei weitere Früchte. Ich stand auf, lief eine Weile durch meine Wohnung, wartete ungeduldig, auf was auch immer. Dann – als mein Blick in den Spiegel fiel – erkannte ich, dass schon längst etwas geschehen war. Dort, genau im Spiegel sah ich, was du gesehen hast. In mir. Von mir. Dinge, die ich längst vergessen hatte.

      Amelie. Ja, so hieß sie. Sie war es, die mir den Trick mit dem Orangenbäumchen beigebracht hatte. Die mir erklärte, wie ich die Illusion heraufbeschwören konnte. Zauberei, das hatte sie mir erklärt, sei nichts als eine gute Mischung aus Technik, Schauspielkunst und der Angewohnheit der Menschen, niemals so recht hinzusehen. Niemand erkennt die wahre Magie, den Traum, oder niemand will glauben, sie zu sehen.

      So war es, so ist es heute noch. So funktioniert auch das Orangenbäumchen. Das ist das Geheimnis hinter jedem Trick.

      Damals dachte ich, Amelie zu lieben – das dachte ich wirklich. Doch manchmal ist auch Liebe nur Illusion, und ich liebte sie nie. Nicht, wie sie mich.

      Sie war es, bei der ich den Trick mit dem wachsenden Orangenbäumchen das erste Mal sah. So einfach, so simpel – und doch voll der Magie, die die Menschen sehen wollten, die Magie, die solche Dinge wahr macht.

      Ich habe es genau gesehen – dort, im Spiegel, dessen Glas den Ton eines Orangenhimmels hatte. Ich habe gesehen, wie ich Amelie umwarb, ihr Herz gewann – und irgendwann auch das Geheimnis des Orangenbäumchens. Vielleicht war es auch nur das, was ich an ihr liebte – dieses Geheimnis, nichts weiter.

      Am Anfang sagte sie mir, dass sie es selbst nicht wirklich wusste – auch sie hatte diese Illusion schließlich nicht erfunden. Das wusste ich. Aber sie konnte den Trick besser, bei ihr war er schillernder. Wirklicher.

      Am Ende hat