Vincent Voss

Faulfleisch


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Doch. Da war es wieder. Er überlegte, welche Tiere so stöhnen konnten, aber es fiel ihm keines ein. Er erinnerte sich an den in den Abendstunden blökenden Esel. Er hatte gedacht, hier wären in dem Moor Wölfe oder Bären ausgesetzt worden. Das Tier hatte so absonderlich geschrien, dass es ihn und Sandra gruselte und Jack wissen wollte, weshalb sie so angespannt hinaus gehorcht hatten.

      Das hier war nicht der Esel, denn es stöhnte verhaltener und leiser. Schon wieder. Vor ihm. Durch den Nebel konnte er die Entfernung nicht abschätzen. Seine innere Angst ließ ihn vermuten, dass er der Quelle sehr nah stand. Er versuchte, zu schleichen. Er konnte im Nebel Bäume erkennen. Keinen Knick, sondern einen kleinen Wald aus großgewachsenen, kahlen Laubbäumen. Dahinter standen kleinere Schatten, Koniferen. Und dahinter sah er die Umrisse eines Gebäudes. Zwischen ihm und dem Wald stand ein alter Stacheldrahtzaun. Der Draht und die Pfosten sahen verwittert aus und er fragte sich, was er hier eigentlich betrieb. Wahrscheinlich stand er an einem Gehöft, ein Tier bekam ein Junges und er machte aus einem Spaziergang ein Adventure.

      Wieder das Geräusch. Er blieb am Zaun stehen und analysierte es. Hin- und hergerissen trat er von einem Bein auf das andere und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. Das war kein Tier. Was dann? Leider wusste er mit diesem Ergebnis auch nicht weiter umzugehen. Sollte er das Hofgelände betreten? Vielleicht trieben sie es hier irgendwo und was würde er davon halten, wenn ein Verwirrter in seinem Garten stehen würde, wenn er gerade mit Sandra dabei war. Aber weder er noch Sandra, noch irgendwer, den er kannte, stöhnten so gequält. Und laut.

      Zweifelnd drückte er den ersten Stacheldraht runter und schwang sich darüber. Er schlich durch den Wald, in dem nicht nur Dornenranken an seinen Füßen und Schienbeinen zogen, sondern er auch drauf achten musste, keinen Abfall geräuschvoll zu zertreten. Hier wurden sanitäre Einrichtungen und sonstiger Bauschutt entsorgt. Der Nebel wurde lichter und er konnte erkennen, dass es tatsächlich ein Gehöft war. Links stand das rotgeklinkerte Wohngebäude, vor ihm der Hof, dahinter und rechts von ihm die Bewirtschaftungsgebäude. Aber es roch nicht nach Vieh. Als er mit Jack bei Bauer Schümann Milch holen war, roch es schon etliche Meter vor dem Bauernhof nach Vieh und Silage. Die Kühe klirrten in ihrem Stall mit den Ketten. Hier war es still und roch nach feuchter Erde.

      Er hatte den Wald durchquert und stand, durch eine Eiche verdeckt, an der Grenze zum Hof. Das grüne Dielentor des Wohnhauses war geschlossen und aus keinem der Fenster konnte er Licht erkennen. Auf dem Hof stand ein Auto. Ein Volvo-Kombi mit Hamburger Kennzeichen. Dunkelblau, wahrscheinlich ein neueres Modell. Das Tor zu den Kuhställen rechts von ihm gegenüber dem Wohnhaus stand offen. Er wartete.

      Nach einiger Zeit in absoluter Stille konnte Liam Musik hören. Nicht, dass die Musik plötzlich einsetzte, vielmehr war sie wohl die ganze Zeit vorhanden gewesen, so leise, dass man sie erst einmal hatte wahrnehmen müssen. Klassik mit hohem Frauengesang. Es kam aus dem Wohngebäude. Aber kein Stöhnen mehr. Ob er sich geirrt hatte? Das konnte er sich nicht vorstellen. Er wartete weiter und seine Geduld wurde belohnt.

      Es stöhnte aus dem Stall. Es klang menschlich.

      »Hallo«, rief Liam und bereute seinen ersten Impuls sofort, als er sich ein liebestolles Bauernpaar vorstellte. Er erhielt umgehend eine gestöhnte Antwort. Ein großer Körper klatschte im Stall auf den Boden. Wieder ein Stöhnen. Angestrengt. Liam meinte, jemand Hilfsbedürftiges wäre in dem Stall und zur Vergewisserung rief er kräftiger, lauter. Erneut stöhnte es und Liam hörte schlurfende Schritte und eine Kette. Eine Tür im gegenüberliegenden Wohnhaus ging auf. Jemand näherte sich von dort. An der Dielentür bewegte sich der Türöffner.

      Aus dem Stall trat ein nackter, gefesselter Mann auf den Hof. Zwei Hunde bellten hinter der Dielentür. Große Hunde. Liam sah sich nach einer Waffe um, ein Knüppel, ein Stock, aber er fand nichts. Der nackte Mann trug Ketten und Lederriemen an seinem Körper und einen roten Ball im Mund. Brauchte er Hilfe? Liam wusste es nicht einzuordnen. Nach seinem Halbwissen über die Sado-Maso-Szene waren das Fetische aus diesem Milieu. Und jemand aus diesem Milieu stöhnte nun mal, wenn er gequält wurde, denn danach war ihm der Wunsch. Allerdings schwankte der nackte Mann und sah sehr mitgenommen aus. Er hatte Liam noch nicht entdeckt. Dafür aber die beiden Schäferhunde, die sich durch die Dielentür drängten und sofort auf ihn zuhielten. Liam hob einen Stein auf und holte aus.

      »Pan! Apollon!«, schnitt eine Stimme scharf durch den Nebel und die beiden Schäferhunde unterbrachen ihre Jagd und setzten sich brav vor ihn. Ohne ihn aus den Augen zu lassen. Aus der Dielentür trat ein gepflegter Mann, der sich Zeit nahm, um sich einen Überblick zu verschaffen. Der nackte, gefesselte Mann stöhnte nun wieder und schwankte weiter. Sah sich hektisch um. Der andere ging auf ihn zu.

      »René! Du bist noch lange nicht fertig! Noch lange nicht!«. Er stellte sich zwischen Liam und den Nackten, umarmte den nackten Mann, küsste ihn in den Nacken und führte ihn ins Wohnhaus.

      »Du frierst ja schon, mein Süßer. Na, dann muss ich dich gleich erst mal wärmen«, säuselte er so laut, dass Liam es hören konnte.

      »Wenn du artig bist!«, setzte er scharf nach. Liam reckte den Hals, um genauer sehen zu können. Wie auf Kommando knurrten die beiden Hunde und standen auf. Liam wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er wollte, dass die beiden Hunde ihn nicht weiter bedrohten. Andererseits war es ihm auch unangenehm, Zeuge dieses Ereignisses auf einem Privatgrundstück zu sein. Der gepflegte Mann kam zurück und stellte sich zwischen Pan und Apollon vor Liam. Liam ließ den Stein sinken.

      »Ich bin dem Weg bis zur Brücke gefolgt und dann hörte er auf. Ich bin dann etwas auf das Feld gegangen und hörte dann das … Stöhnen. Ich dachte, jemand braucht Hilfe«, rechtfertigte Liam seine Anwesenheit und ärgerte sich über den unterwürfigen Ton. Der andere hatte sich zu erklären.

      »Das hier ist Privatgrundstück«, sagte der Mann und kraulte Pan oder Apollon den Kopf. »Da hinten ist ein Zaun«, deutete er mit dem Kopf zur Wiese. Liam wurde wütend.

      »Hören Sie, hier stöhnt ein nackter, gefesselter Mann und ich komme her, weil ich glaubte, dass er Hilfe braucht. Vielleicht erklären Sie mir mal, was genau das Ganze bedeutet.« Liam spannte sich und massierte den Stein in seiner Hand. Pan und Apollon blieb das nicht verborgen, sie waren sprungbereit. Der Mann überlegte.

      »Sie haben Recht. Wahrscheinlich hätte jeder andere ähnlich gehandelt. Zum Glück. Das tut mir Leid und ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.« Er reichte Liam die Hand und lächelte versöhnlich. Liam schlug ein, behielt aber einen fragenden Ausdruck in seinem Blick, den der andere aufnahm.

      »René ist ein alter Freund von mir. Ich bin schwul und sado. René ist schwul und maso. Manchmal gönnen wir uns hier bei mir einen kleinen Urlaub. Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn sie das für sich behalten könnten.« Er hielt weiter Liams Hand und Liam war es, auch wenn er das Gefühl vehement zu unterdrücken suchte, unangenehm. Es fühlte sich befleckt an. Liam zog seine Hand zurück und nickte.

      »Ist in Ordnung. Ich werde dann wieder zurück, bevor es dunkel wird.« Der andere nickte und wartete so lange, bis Liam ihn nicht mehr sehen konnte. Liam stieg über den Zaun und machte sich auf den Rückweg. Kaum hatte ihn der Nebel auf der Wiese verschluckt, hörte er hinter sich Pan und Apollon am Zaun. Der andere wollte auf jeden Fall sichergehen. Würde Liam an gleicher Stelle auch wollen, nur, dass er keinen Freund namens René hatte, der mit rotem Gummiball in seinem Schuppen wartete. Liam musste lachen und trotzdem hatten dieser Tag und das Erlebte eine pathologische Note für ihn. Der Weg zurück war weit weniger abenteuerlich. Als er zurückkam, war es bereits dunkel und Sandra war mit Jack und Lina zu Hause. Er wusste nicht, ob sie sich schon wieder so nah waren, dass er ihr seine Geschichte erzählen konnte.

       Der Gerichtsmediziner und das Böse an sich

      Stell dir vor, all die Erschossenen, Zerbombten, Vergifteten, Erstickten, Erstochenen, Vergasten, Erschlagenen, Ertrunkenen, Verbrannten, Erhängten, Überfahrenen, Verhungerten, Verdursteten und wie auch immer aus dem Leben Gerissenen hätten einen Schrei. Einen einzigen Schrei, um Abschied zu nehmen, einen Schrei der Anklage, einen Schrei, der ihren Tätern in den Ohren klingen soll, damit sie sich ihrer Untat bewusst werden. Sie legten all ihren Schmerz zusammen,