Vincent Voss

Faulfleisch


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was soll’s: Stellen Sie sich mal nicht so an, Herr Dickdarm! Sie müssen mal das große Ganze betrachten, Sie Wurst!

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      März. Er kam aus Berlin. Wollte Freunde in Hamburg besuchen. An einer Autobahnraststätte fährt der Arsch, der ihn mitgenommen hat, mit seinen Sachen weg und da steht er ohne Karte, ohne Kohle. Trampt weiter, aber niemand hält an.

      Dann kommen drei Typen, sehen normal aus und bieten ihm an, ihn zu einer besseren Raststätte zu fahren. Er sieht ein wenig Links aus, aber noch ganz ordentlich dabei. Die Typen sind Rechts, sehen aber völlig normal aus. Fahren von der Autobahn runter, machen ihm Angst. Einer hatte eine Pistole, sagte er. Fahren über verlassene Dörfer auf eine Waldraststätte. Spielen Hinrichtung mit ihm. Erniedrigen ihn. Quälen ihn. Auf einer Holzbank brechen sie ihm beide Arme. Verschwinden. Hat er sich von ihnen etwas merken können? Gar nichts, sie haben ihn gebrochen. Soll häufig bei Opfern von Gewalttaten vorkommen, hatte mir mal ein Polizeipsychologe erklärt.

      Ich konnte nicht schlafen und bin mit Pan und Apollon herumgefahren. Finde ihn. Helfe ihm ins Auto und bringe ihn zu mir ins Haus. Versorge ihn. Er schläft. Ich nicht. Kann ich nicht. Ich wandere umher, spüre die Nachtluft auf meiner Haut. Es hilft nichts. Ich betäube ihn und bringe ihn in den Arbeitsschuppen. Pan und Apollon denken die ganze Zeit, ich wolle mit ihnen spielen. Ich fixiere ihn Fünf-Punkt mit allem, was ich so zum Fixieren verwenden kann. Spiele mit ihm. Als er wach wird, redet er mit mir. Ich kann das nicht und betäube ihn. Morgen muss ich arbeiten, die Zeit drängt. In der Nacht wacht er wieder auf und wimmert. Er ist jung und kann nicht verstehen, dass sein Wimmern alles nur noch schlimmer macht.

      Kronos. Ich weiß nicht. Das ist etwas anderes. Ich bin verwirrt.

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      Besuch. René hatte sich befreien können und auf den Pfaden des Zufalls wandelte Besuch zu mir. Ein Fremder aus dem Dorf. Ich konnte ihn überzeugen.

      René und ich gucken uns die klaffende Wunde in seinem Arm an. Wir können es beide nicht wirklich glauben, aber er versteht mich, auch wenn er wild an seiner Fixierung reißt. Mit seinen Augen zwinkert er mir zu, dass er versteht, dass ich das machen muss. Ich weiß, dass er schreit, weil es ihm wehtut, aber ich verzeihe ihm. Ich würde wahrscheinlich auch nicht anders handeln. Sein Blick ist voller Liebe und Verständnis. Er bietet mir seine rechte Körperhälfte an und unter seinem Rippenbogen beiße ich zu.

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      Risse durchziehen das Eis und anstatt, das alles durch den Druck in einer Fontäne nach oben schießt, sinke ich knöcheltief ein, dann habe ich festen Halt unter den Füßen. Ich erwarte einen Ton, aber es bleibt still. Kein Schrei, kein Stöhnen. Aus der blutigen Masse tasten sich Hände nach oben, Arme, ganze Schultern mit Köpfen darauf. Ich spüre eine Welle von zerstörenden Empfindungen an mir zerren. Hass. Ein Urinstinkt stärker als Angst. Die Gequälten wollen zu mir. Sie wollen mich. Kronos, ihren Gott.

      Ich wache auf. Pan und Apollon schlafen, aber ich habe die Angst aus meinem Traum mit herüber genommen. Als ich die Augen aufschlage, huscht etwas im Mondlicht vom Brunnen bis zur kleinen Koniferensiedlung. Huscht? Nein, es schwankt eher. Es glänzt, als ob es nass war. Dass Pan und Apollon schliefen, ließ mich an meiner Wahrnehmung zweifeln. Ich schreibe auf, was ich erlebt habe.

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      Wieder ein Geräusch. Ein schlichtes. Ein Tischtennisball landet auf einer Steintischtennisplatte. Dann nichts. Es war nicht viel für Materie oder sagen wir das erste Leben, was in diese Dimension eintrat. Es war schlicht und es war klumpig. Der Schrei war Fleisch geworden und in sich trug er all die Ängste, Sorgen, Schmerzen, den Hass, die Ohnmacht, die vergossenen Tränen, das vergossene Blut von all den Erschossenen, Zerbombten, Vergifteten, Erstickten, Erstochenen, Vergasten, Erschlagenen, Ertrunkenen, Verbrannten, Erhängten, Überfahrenen, Verhungerten, Verdursteten und wie auch immer aus dem Leben Gerissenen.

      Was sollte es fühlen, außer einem gierigen Appetit auf den oder die Erschaffer seines Zustands?

       Tim, der Nachbar und Hübi

      Einen Abend später rief Liam Tim an. Zum einen musste er ihm erzählen, dass es mit Sandra nicht stimmig war, zum anderen brauchte er seinen Rat. Sandra und er hatten sich darauf verständigt, es irgendwann später miteinander versuchen zu wollen. Nicht nur wegen der Kinder, sondern weil sie sich liebten. Jetzt wollten sie getrennt leben. Sandra ging es damit tatsächlich besser, ihm dafür deutlich schlechter. Sandra zog in Hamburg bei Maui, ihrer Freundin, ein und er kam nicht mit dieser unerträglichen Stille in seinem Leben klar.

      Der Fernseher warf stumm Bilder in das große Wohnzimmer, Jack schlief oben und Liam lag mit dem Telefon auf seinem Lieblingssofa und sah nach draußen. Draußen war es stockduster und klirrend kalt. Tim war da und bekifft. Liam vermutete, dass Tim aus seiner Küche telefonierte, im Hintergrund hörte er das Radio. Das Thema Beziehung hatten sie nach kurzer Zeit hinter sich gelassen und Liam erzählte seinem Freund von dem abenteuerlichen Spaziergang und dem nackten, gefesselten Mann mit dem Gummiball im Mund.

      »Oder? Was meinst du? Vielleicht wollte der das gar nicht und wurde da misshandelt oder Schlimmeres«, nagten die Zweifel in Liam. Tim ließ sich Zeit.

      »Nee. Kann ich mir nicht vorstellen. Mit so ’nem Ball im Mund, Ketten und Leder … nee, glaube ich nicht. Der wollte das bestimmt auch so, aber dann is’ klar. Kann man ja nie wissen, wie weit man da gehen kann. Da haben sich ja auch schon welche gegenseitig zu Tode gefoltert. Ich kann mir vorstellen, dass Lust gepaart mit Schmerz grenzüberschreitend ist, weil es an sich konträre, extreme Gefühle sind. Die in einem situativen Einklang, das ist bestimmt hemmungslos. Und was meinte er? Urlaub? Klar, die nehmen sich dann viel Zeit für ihre Spielchen. Aber weißt du denn wer das ist? War ja wohl bestimmt kein Bauer, oder?«, wollte Tim wissen.

      »Keine Ahnung, wer das ist.«

      »Wie? Du hast dich noch nicht umgehört, wer das ist oder will niemand im Dorf etwas sagen?«, hakte Tim nach.

      »Nein, ich habe niemanden gefragt. Warum auch? Ich will erst mal wissen, ob es so was gibt, weißt du. Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher bei der Sache. Wenn die da so ihre Spielchen treiben, dann muss ich mich da auch nicht einmischen. Das geht mich nix an«, verteidigte sich Liam.

      »Ich weiß, was du meinst, Li, aber nur mal so. Jack geht dort in den Kindergarten, Lina wohl auch bald. Dann gehen sie zur Schule und spielen in diesem Dorf auch rum. Alleine deswegen würde ich wissen wollen, wie durchgeknallt der Typ da ist. Ich glaube nicht, dass der da jemanden vergewaltigt hat, aber ich würde allein zu meiner eigenen Sicherheit wissen wollen, ob es auch stimmt, was ich glaube. Weißt du, was ich meine, Li?«

      »Ja.« Liam musste nachdenken.

      »Li? Bist du noch dran?«

      »Ja, Tim. Danke, ich muss jetzt auflegen, ja? Ich komm’ bald mal rum, Jack vermisst euch schon und Lina ist riesig geworden. Bis dann.« Liam legte auf und starrte nach draußen. Er würde sich umhören müssen. Vielleicht sollte er den Hof von der Straße aus aufsuchen. Er erinnerte sich an den gefesselten Mann und erschrak. Der Nachbarskater war auf den Fenstersims gesprungen und starrte ihn mit großen Augen an. Im Maul hatte er Fell und Fleisch. Er legte seine Beute auf den Fenstersims und verzehrte sie. Liam beobachtete ihn.

      Am nächsten Tag fing er seinen Nachbarn ab. Markus war der älteste Sohn des Bürgermeisters und wohnte mit seiner Freundin Melanie neben ihm. Er war Zimmermann und viel unterwegs. Liam griff sich den Müllsack und ging raus, als er Markus’ Bus die Auffahrt hinauffahren sah.

      »Hallo Markus«, grüßte er. Markus nickte nur kurz. Mit dem Müllsack in der Hand ging Liam auf ihn zu.

      »Sag mal, ich hab’ vorgestern ein wenig die Gegend erkundet und bin an der alten Holzbrücke, dort wo der Weg dann auch endet, diese Wiese